
Ives Kugelmann
Berlin (Weltexpresso) - Direktor Juergen Boos verteidigt an der Frankfurter Buchmesse das freie Wort – doch was heisst das in Zeiten von Extremismus und Bedrohungen der Demokratie?
Aufbau | Lassen Sie uns zuerst eine Standortbestimmung vornehmen. Wo steht das «Buch» im Jahr 2025?
Juergen Boos | Soeben bin ich aus Zentralasien zurückgekehrt. Da hat das Buch und speziell das Schulbuch die riesige Bedeutung, neue kulturelle und gesellschaftliche Narrative zu entwickeln. Kasachstan ist ja jetzt nicht mehr Russland. So steht das Buch auch dafür, eine kasachische Nationalliteratur aufzubauen. In vielen Ländern bewährt es sich zudem als Diskursmedium. Hier kommt der Literatur die Rolle der Reflexion und der Gegenwartsdeutung zu. Was sind die drängenden Themen des Welt- und Zeitgeschehens, denen wir uns hier und heute stellen müssen? Welche Lösungsansätze gibt es, um eine lebenswerte Zukunft zu sichern? Es sind eben Bücher, in denen diese Fragen so intensiv, so vertiefend und so nachhaltig verhandelt werden wie in keinem anderen Medium. Bücher sind, wenn Sie so wollen, das Medium der Demokratie.
Aufbau | Seit Antritt als Direktor der Frankfurter Buchmesse im Jahre 2005 begleitet Sie die Debatte um die Begrenzung von Büchern und der freien Rede. Was hat sich verändert?
Juergen Boos | Die Situation wird immer anspruchsvoller. Die Buchmesse hat sich den Kampf um die Meinungs- und Publikationsfreiheit immer auf die Fahne geschrieben. Etwa in den politisierten 60er und 70er Jahren; als die Menschen in Chile aus politischen Gründen im Gefängnis sassen und die Buchmesse dafür plädiert hat, sie freizulassen. In den 80ern und 90ern war’s zwar ruhiger, aber danach hat die politische Inanspruchnahme der Buchmesse wieder zugenommen.
Aufbau | Grossmächte, Gastländer, Interessengruppen üben Druck auf die Buchmesse aus – also viel Politik hinter und teils vor den Kulissen.
Juergen Boos | Ja, die Konflikte der Welt spiegeln sich Jahr für Jahr im Oktober in Frankfurt auf der Buchmesse wider. Das entspricht unserer Tradition. Schon im 15. Jahrhundert zogen Händler – auch Buchhändler – weg aus der Bischofsstadt Mainz in die Freie Reichsstadt Frankfurt. Weil man dort besser machen konnte, was man wollte: freien, von Restriktionen nicht beeinträchtigten Handel mit Büchern treiben und über ihre Inhalte diskutieren. So hatte der Handelsplatz von Büchern immer nebst dem ökonomischen und kulturellen auch diesen politischen Faktor. Leipzig, dessen Buchmesse auch auf eine Jahrhunderte alte Geschichte zurückblickt, entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert zu einem Buchzentrum. Viele vor allem jüdische Intellektuelle wurden dann in der Zeit des Nationalsozialismus ins Exil gezwungen. Dass die Messe in Frankfurt 1949 wieder gegründet werden konnte, war schon grossartig und erwies sich sehr bald als Glücksfall für die Buchbranche weltweit.
Aufbau | … Emigranten kehrten deswegen zurück.
Juergen Boos | Ja, weil sie deutschen Ursprungs waren. Und die Verlagsbranche in Buenos Aires oder New York war auch deutsch-jüdisch geprägt und ist es teils nach wie vor. Aber die «Book Bans» etwa in den USA haben sich über die letzten Jahre zur neuen Bedrohung der Publikationsfreiheit entwickelt. Und solche Tendenzen sind inzwischen auch hierzulande zu spüren und werden immer stärker: «Das geht nicht – ich brauche eine Triggerwarnung auf dem Buch.»
Aufbau | Wie spüren Sie das hier spezifisch?
Juergen Boos | Es gibt verschiedene Ausprägungen. Etwa beim Thema der Übersetzungen: Kann ich als Weisser das Buch einer schwarzen Autorin übersetzen? Oder nehmen Sie das Stichwort Selbstzensur: Will ich mich einer öffentlichen Diskussion aussetzen oder nicht? Die Schere im Kopf ist da. Aber ich beobachte auch, wie Verlage dagegen anarbeiten und lernen, Kritik auszuhalten. Ihr Daseinszweck ist schliesslich die Bereicherung des Diskurses, nicht seine Vermeidung.
Aufbau | In Amerika sind Buchverbote, Index und Sanktionen wieder Thema. Wie steht es darum?
Juergen Boos | In Deutschland haben wir eine klare Rechtslage und eine entsprechende Praxis. Was nach deutschem Recht nicht verboten ist, darf gezeigt und gehandelt werden. Da ist die Lage recht eindeutig.
Aufbau | Wobei das Konzept der Meinungsäusserungsfreiheit in den USA und Europa ein ganz unterschiedliches ist. Wie vollziehen Sie diesen Spagat?
Juergen Boos | Die Frankfurter Buchmesse ist die Aussenhandelsorganisation der deutschsprachigen Buchbranche. Wir haben den Auftrag, weltweit für die Freiheit des Publizierens einzutreten und tun dies zusammen mit dem PEN und dem Internationalen Verlegerverband. Deswegen öffnen wir seit jeher einen literarischen Diskursraum für die ganze Welt. Um das noch besser kenntlich zu machen, haben wir dafür im vergangenen Jahr ein eigenes Format geschaffen: «Frankfurt Calling – Perspectives on Culture and Politics.» Unter dieser Marke veranstalten wir gemeinsam mit internationalen Kulturinstitutionen, investigativen Medien, NGOs und vielfältigen literarischen Stimmen ein kulturpolitisches Programm. Das ist unsere Werkstatt der Demokratie. Ich denke, dass wir damit weltweit für unser westeuropäisch geprägtes Verständnis von Meinungs- und Äusserungsfreiheit werben.
Aufbau | Dieses Jahr werden die Philippinen Gastland sein. Damit kommt ein Land aus dem so genannten «Globalen Süden». Sitzt Ihnen da die Antisemitismus-Debatte um die Documenta im Nacken?
Juergen Boos | Kein Ehrengast kommt über Nacht nach Frankfurt. So brauchen wir nach Vertragsunterzeichnung jeweils mindestens drei Jahre, um ein Gastland vorzubereiten, und zwei Jahre zuvor, um uns mit dem Land auseinanderzusetzen und zu entscheiden. Dafür sind die Philippinen ein positives Beispiel, weil wir von Beginn an ein professionelles Gegenüber und die Möglichkeit hatten, mit den Medien und den grösseren Verlagen zu sprechen. Wobei auch so immer die Gefahr besteht, dass man sich im Elfenbeinturm bewegt, auch wenn man Autorinnen und Autoren, andere kulturell Tätige und Regierungsvertreter trifft. Man ist trotzdem in einer Blase.
Aufbau | Zuletzt sorgte Slavoj Žižek 2023 nach dem 7. Oktober mit seiner Rede für heftige Debatten. Wie nervös sind Sie denn jeweils bei den Eröffnungsreden?
Juergen Boos | Es kommt vor – und soll ausdrücklich vorkommen dürfen! –, dass ich mit einer Rede einverstanden bin, das Publikum aber nicht. Da bin ich und sind wir ja nicht der Massstab der Dinge. Aber wir als Frankfurter Buchmesse sind die internationale Plattform, auf der Meinungen geäussert und auch kontrovers besprochen werden. Insofern hat Žižeks damals umstrittene Rede gezeigt, wozu wir uns jedes Jahr eigentlich in Frankfurt treffen. Als Plattform für den freien Diskurs zielen wir bewusst nicht auf die Verengung, sondern auf ein breites Spektrum der Perspektiven. Wir folgen einer Logik von Begegnung statt von Boykott. Denn die Frankfurter Buchmesse ist seit ihrer Entstehung eine Demokratiemesse.
Aufbau | Grosse Kontroversen gab es um die Zulassung rechter Verlage. Ist es letztlich das Konzept, dass alles möglich ist, respektive wo ist die Grenze?
Juergen Boos | Die Grenze ist schlicht das Grundgesetz. Es steht jedem, der da ist, frei, ausgestellte Inhalte zu beanstanden und der Staatsanwaltschaft anzuzeigen. Es kommt vor, dass zum Beispiel Vertreter kritischer Organisationen Titel sehen, gegen die sie Einspruch erheben. Vor einigen Jahren gingen Mitarbeiter des Simon Wiesenthal Centers über die Messe und fanden fremdsprachige Ausgaben von «Mein Kampf». Wir schickten unsere Leute hin, aber da waren die Exemplare natürlich schon verschwunden. In den letzten Jahren hatten wir solche Probleme nicht mehr, auch wenn es immer wieder fragliche Inhalte gibt. Wobei wir aber eben nicht nur dem Grundgesetz, sondern als internationale Leitmesse der Publishing-Branche auch dem Kartellrecht unterstehen und zulassen müssen, was nicht verboten ist.
Aufbau | Mit «Mein Kampf» und den «Protokollen der Weisen von Zion» wurde das Buch auch zu einem Propagandamittel und Vorläufer des Massenmords. Müssen Sie da fein balancieren?
Juergen Boos | Das Thema Publikationsfreiheit ist in Deutschland sehr genau geregelt. Und wenn jemand einen der erwähnten Titel auslegt, greifen die rechtsstaatlichen Verfahren. Deutschland steht in einer besonderen historischen Verantwortung, achtsam zu sein, wenn es gilt, Antisemitismus und Hetze einen Riegel vorzuschieben. Das kann aber nur dann wirksam und dauerhaft gelingen, wenn solche Entscheidungen über «erlaubt» und «verboten» von den Gerichten getroffen werden – und nicht von jedermann. Deshalb sind wir an rechtsstaatliche Vorgaben gebunden.
Aufbau | Mit der Einladung von Salman Rushdie im Jahre 2015 legten Sie sich ja auch mit Teilen der Welt an.
Juergen Boos | Ich arbeitete in München, als vor über 30 Jahren die «Satanischen Verse» herauskamen. Damals war mein Verlag Teil einer Gruppe von Verlagen, die sich zusammengeschlossen hatten, um dieses Buch zu publizieren. Ich stieg also gleich mit der Frage ein, weshalb wir das Buch nicht als Einzelverlag herausbringen konnten, sondern uns unkenntlich machen mussten. Dennoch wurde der Vater eines norwegischen Verlegerfreunds auf dem Sommerfest der Firma, die das Buch verlegte, angeschossen – die Täter wurden bis heute nicht gefasst. Und der Übersetzer wurde getötet. Ich wurde also brutal früh mit solchen Themen sozialisiert.
Aufbau | Das wohl älteste Kulturgut Buch wird regelmässig totgesagt. Vor zehn Jahren war es das E-Book, davor Amazon, neuerdings aufgrund der KI. Wie öffnen Sie die Messe dafür, und wie verhalten sich die Verlage?
Juergen Boos | Zunächst einmal muss man feststellen, dass diese regelmässig dem Buch gestellten Todesprognosen ebenso regelmässig nicht eintreffen. Was die jeweils aktuellen Todfeinde des Buches angeht: Wir nehmen all diese Themen in unsere Programme auf. Wobei ich KI vor allem als gesellschaftliches und rechtliches Problem sehe. Wir werden zwar nicht verhindern können, dass KI-Tools genutzt werden, aber wir können thematisieren, welche Auswirkungen sie auf die Gesellschaft haben. Das KI-Thema wird bei uns in der politischen, ökonomischen und kulturellen Perspektive reflektiert.
Aufbau | Wenn auf der nächsten Messe die ersten KI-Bücher präsentiert werden, bieten Sie dafür die Plattform oder haben Sie dazu eine Position?
Juergen Boos | Meine persönliche Position ist, dass KI-generierte Werke – auch in Form der Literatur – keine Kunst sind. Aber da kommt man gleich ins Philosophische: Wie entsteht Kunst? Und dann wird es schwierig. Aber für mich ist KI keine künstlerische Leistung. Wenn der Markt anderseits das will und KI zum Beispiel eine Zusammenfassung im Weiterbildungsbereich schreibt, sehe ich daran nichts Verwerfliches. Wie sich die Zusammenarbeit zwischen Künstlichen Intelligenzen und den natürlichen Intelligenzen in den Verlagsabteilungen, etwa dem Lektorat, in Zukunft gestaltet, wird ein spannendes Thema, das uns noch beschäftigen wird.
Aufbau | Diskussionen um geistiges Eigentum, Plagiate, Piraterie fordern die Branche heraus. Was bedeutet das für Sie?
Juergen Boos | Das ist für uns ein Riesenthema. Wir haben nebst der Messe an sich den Auftrag, Verleger weltweit zu unterstützen. Das heisst, dass wir intensiv hinter den Urheberrechten her sein und die entsprechenden Institutionen unterstützen müssen. Wir arbeiten eng mit WIPO, der World Intellectual Property Organization in Genf, und natürlich mit dem Internationalen Verlegerverband zusammen. Wobei durch KI die Grenzen verwischt werden – wem gehört was, durch welche Veränderung entsteht etwas wirklich Neues?
Aufbau | In nächster Zeit werden sich wohl die US Book Bans noch verschärfen. Was heisst das für die Buchmesse, wenn hier Bücher aufliegen, die in den USA verboten sind?
Juergen Boos | Wir müssen das sichtbar machen, auch als Thema in unserem Programm. Und wir müssen es vorführen am konkreten Objekt. Wir müssen Kinderbücher zeigen und fragen, weshalb diese nicht mehr in Texas ausgeliehen werden dürfen.
Aufbau | Ist der Index als grösste Bedrohung des Buches, aber auch als Sackgasse, für eine Buchmesse generell immer ein Thema?
Juergen Boos | Ja, das ist es. Ich erinnere mich an «American Psycho» von Bret Easton Ellis, das in den Buchhandlungen nicht ausgestellt werden durfte, aber durchaus erhältlich war. Oder die ganzen Geschichten mit den Persönlichkeitsrechten, bei denen es heikel und oft noch schwieriger ist.
Aufbau | Wir befinden uns mitten in weltweiten heftigen politischen Verwerfungen. Die Buchmesse war ja oft Seismograph.
Juergen Boos | Diese Verwerfungen bescheren uns neue Erfahrungen, beispielsweise, dass Deutschland und auch die Frankfurter Buchmesse in Ländern wie Malaysia oder Indonesien als zu pro-israelisch angesehen werden. Wir haben dadurch sehr viele Diskussionen zu führen, wenn wir etwa mit dem Goethe-Institut deutsche Autorinnen und Autoren nach Jakarta bringen. Man realisiert hier gar nicht, was das bedeutet, und diesen Diskurs möchte ich gerne auch sichtbar machen. Sehen Sie, der internationale Austausch war, ist und bleibt unsere DNA! Seit Anfang der 1950er Jahre stellen in Frankfurt Jahr für Jahr mehr internationale als deutsche Verlage aus. Fachbesucher aus weit mehr als 100 Ländern kommen auf die Messe. Diese Vielfalt ist unser Auftrag. Wir wollen, dass dieser Austausch möglich bleibt, friedlich und in gegenseitigem Respekt. Gerade in einer Zeit geopolitischer Spannungen wird ein solches Angebot immer wichtiger, das gilt kulturell, politisch und wirtschaftlich gleichermassen. Ja, es wird anstrengender. Aber das Ziel ist alle Mühen wert.
Foto:
Für Juergen Boos sind KI-generierte Texte keine Kunst
©Aufbau. Das Jüdische Monatsmagazin
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung des Autors aus Aufbau. Das jüdische Monatsmagazin vom 19. März 2025