
Tobias Gohlis
Hamburg (Weltexpresso) - Was mich verwunderte: Vor dem Magazin-Kino in Hamburg-Winterhude standen am 19. März keine Polizisten, wir Besucher wurden nicht kontrolliert. Der große Kinosaal war ziemlich voll, hin und wieder mussten 15 oder 20 Leute aufstehen, wenn jemand zu seinem Platz in der Mitte wollte. Auf der Bühne: ein langes Podium mit vier Mikrophonen, Wasserflaschen, Leselampen. Flankiert von Bannern der Veranstalter: NDR Kultur und Literaturhaus Hamburg. Wir blätterten noch ein wenig in den Smartphones.
Und plötzlich war er da, es war fast wie der Auftritt einer kleinen Marschkolonne: Zuerst die Übersetzerin von der Uni Kiel, die für den erkrankten zweisprachigen Moderator eingesprungen war, dann der Napolitaner vom Typ Lenin, dann der Moderator, der vor Aufregung vergaß, seinen Namen Alexander Solloch zu nennen, dann die Schauspielerin Julia Wieninger, die die Texte lesen sollte. Angekommen an seinem Platz, hob er beide Arme, als wolle er winken wie ein Fußball-Star, wüsste aber nicht genau, ob man ihn hier überhaupt willkommen heißen würde: Roberto Saviano, 47 Jahre alt, seit 2006 unter Polizeischutz, personifizierter Widerstand gegen die Mafia. Das Publikum, ein Drittel davon Italiener – mein Sitznachbar war aus Neapel – klatschte ausdauernd.
Ob er das alles so wieder machen würde, gejagt, Personenschutz, Prozesse, die Bedrohung? Saviano antwortete höflich, als hätte er die Frage noch nie gehört. Sprach von Zweifeln, vom Trotz des Süditalieners. Während des ganzen Abends wirkt er erschöpft, fuhr sich mit den Händen über die Augen, rieb sich die Wangen, war aber hellwach, konzentriert bei seinen Antworten.
Saviano beschrieb die Cosa Nostra wie einen Orden: Wer eintrete, wisse um die Alternativen: Gefängnis oder Tod. Der Preis der Macht: Weder darf man Kommunist sein noch Faschist, darf nicht trinken, Drogen nehmen, betrügen, ins Bordell. Das Ideal der Gefühlsbeherrschung. Wer zu lebenslänglich verurteilt wurde, schlug die Hände nicht vors Gesicht oder schrie „mein Gott“, sondern nahm das Urteil mit unbewegtem Gesicht entgegen.
Liebe wird als Schwäche angesehen – das erinnert mich an Elon Musk, der Empathie als Weichheit verteufelt (aber sich massiv nach rechts radikalisierte, als einer seiner Söhne sich als weiblich registrieren ließ).
Die Textpassagen aus TREUE, die Julia Wieninger bravourös vortrug, zeigten eine Mafia, wie man sie kennt. Erratisch, blutig, verschwiegen, immer auf Machterhalt durch maximale Abschreckung aus. Der Spielsüchtige, der seine Frau verspielt, wird umgebracht, weil so einer nicht vertrauenswürdig sein kann. Der Mafioso muss seine Geliebte erschießen, um Einkommen, Einfluss und Macht zu behalten, die seine Ehefrau garantiert. Die junge Frau, deren Mann zu zwanzig Jahren verurteilt wurde, muss wegen eines Internetchats mit einem anderen Mann Salzsäure trinken – wahnwitzige Vorstellungen von Reinheit, die zum Terror dazugehören.
Als Saviano am Ende eines langen, spannenden Abends gefragt wurde, ob er, wir, in unserer Lebenszeit das Ende der Mafia erleben würden, lachte er: „Wenn der Kapitalismus endet, dann ja.“
Als Italien Gastland der Frankfurter Buchmesse war, war der berühmteste Schriftsteller Italiens nicht als Mitglied der offiziellen Delegation dort. Melonis postfaschistische Kulturschergen funktionieren auch im Ausland. Ein italienisches Kulturinstitut in Frankreich wollte „einen italienischen Autor“ präsentieren. Sobald Melonis Regierung erfuhr, dass der Autor Saviano war, wurde er ausgeladen. In Hamburg nicht. Er war da, sprach, und vermutlich alle wünschten ihm ein langes, gutes Leben.

Robarto Saviano, Hamburg 19.3.2025
© Gohlis
Info;
Roberto Saviano: TREUE
Liebe, Begehren und Verrat – die Frauen in der Mafia
aus dem Italienischen von Anna Leube, Wolf Heinrich Leube
Hanser, 272 Seiten
ISBN 978 3 446 28305 3
Quelle: https://recoil.togohlis.de/roberto-saviano-treue/