Bildschirmfoto 2025 04 21 um 00.55.31Frankfurt liest ein Buch 2025, Teil 3

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ja, stimmt, derzeit geht es mit den Erzählern rund. Soll heißen,daß es hier mit einem Icherzähler beginnt und es dauert länger, bis man verwundert den Kopf schüttelt, wenn – wie man glaubt – der Icherzähler über das Innenleben eines jüngeren Mannes berichtet, bis man versteht, daß sie sich im Erzählen abwechseln, der alte Luis Sommerfeldt, Seismologe, ehemals Prof. der Geophysik an der Frankfurter Universität, der oben auf dem Kleinen Feldberg sein ganzes Leben lang die Erdbebenwarte betreut und die von ihm erhobenen Daten wissenschaftlich auswertet und ein namenloser auktorialer Erzähler, der sich mit dem Leben und dem Innenleben von Lorenz Kühnholz beschäftigt, dem Sohn seiner Nachbarn auf dem Kleinen Feldberg.

 

Sagen wir es gleich, die Passagen, die der Seismologe erzählt, sind so viel interessanter, einfach, weil der Mann interessanter ist, dessen Entscheidung, da oben alleine seiner Seismologie zu leben, keinen Führerschein zu haben, also umständlich in die Universität zu seinen Vorlesungen und Seminaren zu kommen, einen dann doch verwundert, denn er hat viele Ideen und Überlegungen im Kopf, die er mit anderen teilen möchte, was so lange noch irgendwie gut geht, als er als Lehrender seine Studenten auch auf der Erdbebenwarte um sich hatte. Aber jetzt ist er schon lange pensioniert und sein eigentliches Leben hat er auf die Beobachtung und Hilfestellung für Lorenz gerichtet, um den es gleich geht.

Doch zuvor muß einfach raus, warum das Herz der Leserin beim Erzähler Luis , der mitten im Erzählen von sich als ‚altem Luis‘ spricht, verbleibt. Die Lebensschilderung seiner Amour fou  mit Christine zu Zeiten als die Deutsche Mark (DM) die Reichsmark ersetzte – das kann man woanders nachlesen, das war am  21. Juni 1948 – sind hinreißend, diese Seiten lohnen den ganzen Roman, der ja um ganz anderes geht, aber wie gesagt, das Herz bleibt beim Lesen bei Luis Erlebnis stehen, als er die neue DM in Sekt und Delikatessen anlegt, beim Zurückkommen aber das Haus nicht mehr existiert, Christine verschüttet ist, weil sich die beiden leerstehende kaputte Luxushäuser als Bleibe aussuchten, was ihren Tod bedeutete. Man leidet mit.

Kommen wir also zur Hauptperson des Romans, zu dem Jungen, den Luis so gerne aufwachsen sieht, dessen Vater Hausmeister des Areals auf dem Kleinen Feldberg ist und dessen Mutter eine schöne Frau ist: Lorenz Kühnholz.

Oft nähert man sich ja in Romanen den Hauptpersonen allmählich an und je länger man ihren Weg verfolgt, desto interessanter werden sie, bzw, mag man sie. Hier ist das Gegenteil der Fall. Denn es beginnt so spontan, daß man erst einmal Lorenz bewundert. Er hat nämlich Dienst auf der Sternwarte, wo er aushilft und als eine junge Frau aus Köln anruft, die Angst vor der nächsten Erdbebenwelle hat, beruhigt er sie erst mit Worten, fragt dann, wo sie wohne und verspricht, zu ihr nach Köln zu kommen.

 

„Was hast du denn für ein Erdbeben in mir ausgelöst?“, fragt Selma, als er am nächsten Tag zurückfährt, die Heirat folgt und neun Monate später kommt Horand zur Welt. Schon bei der Hochzeit wurde klar, daß Selma es oben auf dem Kleinen Feldberg der Schwiegereltern wegen nicht gut aushält. Sie ziehen in ein eigenes Haus, das schwer zu finanzieren ist, aber irgendwie geht es schon, denn er hat Hoffnung in der Bundesbank aufsteigen zu können. Denn die Bundesbank war sein Ziel von Anfang an und er war sogar für den damaligen Bundesbankpräsidenten persönlicher Referent. Doch nachdem erst einmal der Anschluß der DDR an die Bundesrepublik 1990 vollzogen ist – der Autor spricht weder von Wiedervereinigung noch von dem, was war: der Anschluß der DDR an die BRD -, woran Lorenz durchaus Kritik hat, weil er es als zu schnell empfand, steigert sich seine Abwehr gegen die Politik, als die DM zugunsten des Euro abgeschafft wird. Und als er auf dem internationalen Parkett von Davos dies öffentlich kundtut, ist es mit seiner Kariere endgültig vorbei. Das wäre eh passiert, denn die Herrlichkeit der Bundesbank als wichtigstes europäisches Finanzinstitut ist vorbei. Es gibt die Europäische Zentralbank.

Doch das eigentliche Drama folgt erst, als er bei einem beruflichen Auslandsaufenthalt in Albanien, wo keiner hinwollte, ein Kind überfährt. Er kann wirklich nichts dafür, dennoch geht es einfach nicht, daß er ohne sich bei der Polizei zu melden, rasch nach Hause zurückfliegt. In Albanien hatte er sich in eine junge Frau verliebt, mit der er heimlich – vor seiner Frau – Briefe schreibt. Es wird nie was sein zwischen den beiden, aber dieser verdruckte Mann läßt weiterhin andere sein Leben bestimmen, wozu gehört, daß eines Tages der Bruder der Albanerin auftaucht und für die Familie des toten Jungen pro Monat 500 DM fordert. Er muß nicht mal fordern, Lorenz zahlt aus schlechtem Gewissen freiwillig die 500, von denen nie klar wird, ob sie beim Bruder verbleiben oder in Albanien ankommen. Als seine Frau das entdeckt, verstärkt es ihre Haltung ihm gegenüber, wie sie Luis mitteilt: „Ich bewundere ihn immer noch, aber nicht mehr für seine Siege, sondern für die Art, wie er sich gegen die Niederlagen stemmt….Lorenz ist ein Verlierer“.

Immerhin bleibt sie bei ihm, zieht, nachdem Lorenz Vater sich und seine Mutter erschossen hat – richtig, alles bißchen dolle – mit ihm und dem Kind auf den Kleinen Feldberg, was Luis freut, denn eigentlich ist ja Lorenz sein...nein, das müssen sie dann selber lesen. Genug Veranstaltungen gibt es ja, wo viele Fragen gestellt werden können und wie wir meinen auch müssen. Selten eine solche Abneigung gegen eine literarische Figur entwickelt, gesteht sich die Rezensentin.

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Umschlagabbildung

Info:
Dirk Kurbjuweit, Nachbeben, erstmals erschienen 2004, hier 1. Auflage, Penguin Verlag 2025
ISBN 978 3 328 60408 2