„Der Fall Collini“ von Ferdinand von Schirach als Buch (Piper) und Hörbuch (Osterwold audio)

Hans Weißhaar

Frankfurt am Main (Weltexpresso) –  Der Berliner Anwalt und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach wurde mit seinem erzählerischen Debüt VERBRECHEN auf Anhieb als literarisches Talent gewürdigt. Für seinen dritten Roman nun bekam er viel Häme mangels fehlender literarischer Bedeutung. Wir müssen ganz offen sagen, daß uns die literarische Qualität beim Lesen ab irgendwann völlig gleichgültig wurde, weil in uns diese Aufarbeitung der fehlenden Verfolgung von Nazi-Verbrechen in der Bundesrepublik zu blankem Entsetzen führte.


Insofern ist dies ein wichtiges, ein ganz wichtiges Buch, bei dem wir die Hörfassung von Osterwold audio die sinnvollere Variante finden, wenn man sich für das eine oder andere entscheiden will, weil die Stimme von Burghart Klaußner, der die drei CDs mit 224 Minuten Laufzeit liest, die dem Text innewohnende Spannung aufrecht erhält. Es ist nämlich völlig richtig, daß im Buch die Titelperson, dieser Italiener, der vierunddreißig Jahre im Lande der Mörder seines Vater bei Mercedes-Benz „unauffällig und unbescholten“ gearbeitet hatte, unter psychologischen Gesichtspunkten eine Nullnummer bleibt.

Nur die Hintergründe können wir im Nachhinein verstehen, durch Papiere, die die furchtbare Vergangenheit ans Licht holen, aber die Person selbst vermittelt dies nicht, auch nicht durch eine Beschreibung der Tat, des Mordes durch den Täter selbst, der zudem alle Angaben über die Tat verweigert, nur die Tat selbst zugibt. Dieser Fabrizio Collini, der nun für Außenstehende ohne Motiv den angesehenen deutschen Industriellen Hans Meyer brutal umbringt– der Name des Ermordeten taucht das erste Mal auf Seite 37 auf – dieser Collini wird erst aufgrund der am Schluß erzählten geschichtlichen Geschehnisse ein begründeter Mörder,  also einer, dessen Motive wir nachvollziehen können.

Nun kann man die psychologisch blutleere Gestalt des Collini dem Autor aber nicht zum Vorwurf machen, weil seine Absicht nicht die ist, an diesem Einzelschicksal einen einzelnen Mord verständlich zu machen, sondern umgekehrt, die gesamte Geschichte hindurch der Eindruck stabil bleibt, daß der Autor mit der Verweigerung von Psycho-Details die Spannung – warum bloß machte der das? – aufrecht erhält und jeder auf eine allgemeine Erklärung für diesen Mord wartet, wie es auch kommt und das eigentliche Thema dieses Romans ist.

Insofern hätte tatsächlich der Roman sinnvoller „Der Fall Hans Meyer“ heißen können oder auch „Der Fall des Casper Leinen“. Dieser, ganz frisch Anwalt, wird als Pflichtverteidiger einem Mörder zugeteilt, der nichts über seine Motive aussagt, aber deutlich seine Tat bekräftigt. Erst während wir Leser und Hörer schon lange vom Autor eingeweiht sind, daß der Ermordete identisch ist mit dem von ihm geliebten Großvater seines besten Freundes aus Jugendtagen, der mitsamt seinen Eltern bei einem grauenvollen Autounfall damals umkam – bißchen viel Tote für unseren Geschmack - , erfährt der junge Anwalt erst durch ein Telefongespräch mit seiner Jugendliebe .- im Roman wird die Liebesbeziehung nun fortgesetzt -, der Schwester seines toten Freundes und Enkelin des Ermordeten, welchen Mörder er hier verteidigen soll.

Für Nichtjuristen interessant wird nun vom bewährten alten Anwalt, der im Namen der Familie Nebenkläger,  im Prozeß also sein Gegner ist, dem jungen Kollegen geraten, in diesem Beruf nie seinen persönlichen Bedürfnissen zu folgen, also die Verteidigung niederzulegen, sondern strikt nur den Interessen seines Mandanten zu entsprechen. Das allein sei die nötige professionelle Haltung. Also kommt es mit dieser Besetzung zum Prozeß, der dramaturgisch höchst filigran immer wieder in die Irre führt – mal scheint der alte Anwalt, mal der junge als der Gewinner -, bis die Bombe am Schluß platzt.

Und obwohl es uns juckt, den Schluß zu beschreiben, weil die Spannung aufrecht erhalten wird, hoffen wir doch, daß bei der Beschreibung der politischen Sachverhalte es  nun neue Leser geben wird, die aus genau diesen Gründen das Buch jetzt lesen und das Hörbuch hören. Uns war das übrigens wieder einmal eine lehrreiche Erfahrung, wieviel fundierter wir den Inhalt  aufnahmen, durch Lesen und Hören.

Nun wollen wir Cellinis Geheimnis bis Aufdeckung durch Leser und Hörer wahren. Also auch das Geheimnis, was  hinter dem sauberen und hochgeehrten und beliebten Hans Meyer an geschichtlichen Abgründen sich auftut. Warum aber Collini tätig werden mußte, ergibt sich aus folgendem: 1968 passierte ein in der deutschen Rechtsgeschichte kaum glaublicher Vorgang. Nach langen Jahren der Diskussion von Verjährung von NS-Verbrechen, wurde in dem Gesetz vom 1.10. 1968 „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz (EGOWIG)“ von der Fachwelt zunächst unentdeckt, die bisher als Mordgehilfen qualifizierten Nazi-Täter lediglich zu Totschlägern herabgestuft.

Die Konsequenz dieses „juristischen Kunstgriffes“ war, daß deren Taten als Totschlag gewertet und damit verjährt waren. Der Verfasser dieses Gesetzes, Eduard Dreher, war während des Krieges Erster Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck und forderte für banalste Vergehen die Todesstrafe. Nach dem Kriege wurde er ungehindert Leiter der Abteilung Strafrecht im Bundesjustizministerium und schrieb zusammen mit Kollegen den bis heute maßgeblichen Kommentar zum Strafgesetzbuch. In dieser Eigenschaft hatte er das vorgenannte Gesetz formuliert und ausgenutzt, daß die gesamte Bundesrepublik Deutschland auf die Studentenbewegung starrte und von niemandem bemerkt, alle Gesetzgebungsorgane diesem Gesetz zustimmten. Da gleichzeitig rechtlich gilt, daß die bewirkte Verjährung nicht wieder aufgehoben werden kann und die Taten endgültig straffrei bleiben, ist es zum vorliegenden „Fall Collini“ gekommen, der auf wahren Begebenheiten beruht.

Obwohl wir die Studentenbewegtung aktiv begleiteten, obwohl wir als Schüler den Auschwitzprozeß in Frankfurt besuchten, obwohl wir uns immer als Antifaschist gefühlt und Geschichte studiert hatten, obwohl wir alle Aufarbeitungen der Nazi-Verbrechen begrüßen, die immer wieder neu – wie diesmal –  etwas bisher Unbekanntes aufgreifen und verfolgen,  hatten wir von dieser Ungeheuerlichkeit noch nichts mitbekommen und sind dem Autor Ferdinand von Schirach dankbar, daß er dieses juristisch-politische Verbrechen von 1968 in der Bundesrepublik offenlegt.


Ferdinand von Schirach, Der Fall Collini, Piper Verlag 2011
Ferdinand von Schirach, Der Fall Collini, gelesen von Burghart Klaußner, Osterwold audio
www.piper.de
www.osterwold-audio.de