Franz Neuland, Menschen im Frankfurter Westend 1933-1945, 2013 aus dem VAS-Verlag, Teil 2
Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der folgende Beitrag soll dem interessierten Publikum den Gang des Buches durch die folgenden Jahre (des Krieges) verdeutlichen und auf jeden Fall auch interessant machen.
Entwicklung zum Krieg
Es ist ein Weg durch unsere eigene, vergangene oder auch nicht vergangene Geschichte, die nicht nur Forschungsobjekt ist, sondern auch Gelebtes, mit Geltung über die Zeitzeugen und Betroffenen hinaus. So viele Details, Episoden, Anekdoten, Situationen - nicht gar immer ohne Humor, sowohl aus der Sache wie auch auch aus dem Mund bzw. der Feder heraus - bleiben dem Buchtext vorbehalten und erfordern ganz schlicht die Lektüre.
Am 1. April 1933 begann für den jungen Franz Neuland die Schulzeit. Hitler war soeben zur Macht gekommen. Der einzige jüdische Lehrer, den er kennen lernte, war für Franz ein Herr Beicht, „ein sehr gütiger, kluger Mensch mit hervorragenden pädagogischen Eigenschaften...“ An den Schulen gab es die „Drei-Klassen-Gesellschaft des Rohrstocks“. (S. 20) Auf Grund- und Volksschulen galt: Rohrstock: ja, auf Mittelschulen: bis 14 Jahren, auf Gymnasien: generell nicht. Ein Herr Lehrer Braun verabscheute Denunziantentum. Er hatte da so seine gelungene Methode, diesen Verrat zu ahnden, ohne Rohrstock. Der Hitlergruß wurde im September eingeführt. Militaristische Weltkriegsliteratur wurde schulfähig. Den meisten Lehrern fehlte „humanistische Bildung oder liberale Vorprägung“.(S. 41). Befehl und Gehorsam wurden an Schulen praktiziert.
Gepflegt wurde an Schulen „`nationales Heldentum`“ der skurril-gefährlichen Art (`Leutnant Schlageter` und ähnliche). Tückisch war die propagandistische geistige Infiltration in die aufgrund der Entwicklungsbiologie stets aufnahmebereiten jugendlichen Gemüter.
Gleichschaltung
Die Tendenz ging hin zur Totalüberwachung und Kontrolle. Die „Mitarbeiter“ der `Politischen Leiter` der NSDAP wurden „Blockwart“ genannt. Dauerhaft gepflegt wurde die unablässige Putz-Kultur „der Dienstränge, mit Rangabzeichen (Schulterstücke und Kragenspiegel)..“, der „Appelle, Aufmärsche, Schulungen, Übungen, Kundgebungen, Haus-und Straßensammlungen..“.(S. 50) Hunderttausende Spitzel des SD, der SS und Gestapo wurden rekrutiert. Schustermeister Otto Neuland verdiente „zwischen 260 und 300 Mark – wesentlich weniger als vor der Wirtschaftskrise - .. “. (S. 52)
Weltpolitisch brisante Vorkriegsjahre: „Austritt aus dem Völkerbund“, „Widerruf des Kriegsschuldartikels“ 1933, „Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht“ 1935, entgegen dem Vertragswerk von Versailles, „Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht“ 1935, „der Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland“ 1936 und „der Anschluss Österreichs“ an das deutsche Reich 1938.(S. 55) Alle Vorgänge vertragswidrig. England reagierte noch nicht. Hitlers Armee hatte kaum Stärke und wurde auch in dieser Hinsicht als eine noch unbereite Armee 1939 in einen Weltkrieg gelotst.
Vorkrieg
Ilse Neuland, die etwas ältere Schwester, verließ die Schule1939. In diesem Jahr war „Wegscheide“ (Einrichtung der Jugend-Schulpflege; in Frankfurt am Main bis heute für alle Schulklassen angeboten) zum letzten Mal Programm. Man sah „den Spessart voller Militär“. Die Jugend wurde durch ein Aufmarschgebiet gefahren. Es kam dazu, dass „die einstigen Siegermächte Großbritannien, Frankreich...im „Münchner Abkommen“ die Tschechoslowakei fallen und die Wehrmacht ins „Sudetenland“ einmarschieren ließen. Otto Neuland sagte: „Beim nächsten Mal will er`s wissen“. (S. 57)
Auf der Zeil tobte sich der Mob aus; „auch jüdische Wohnungen im Ostend und im Westend wurden gezielt verwüstet, Möbel zum Fenster hinausgeworfen, die Männer misshandelt, Autos angezündet.“ (S.58)
Es begab sich, „dass ab Herbst 1935 „`Haushaltsausweise` ausgegeben wurden.“ (S.61)
Das bedeutete: Kontingentierung bestimmter Lebensmittel schon zu so einem „frühen“ Stadium. Es gab „Unterversorgung“. „Der ewige Devisenmangel...zugunsten von Rohstoffeinfuhren...ließen schon bald die Grenzen erkennen, an die das Regime mit seinen Absichten gestoßen war.“ (S. 61)
„Rohstofflenkung“ fand ab ca.1937 statt, zumal Deutschland auf Einfuhr angewiesen war. Gartenzäune mussten jetzt herhalten. Man hatte sie zu demontieren. Das Blei blieb im Loch der Einfassung und konnte in der Nachkriegszeit „gefördert“ werden. Man kann schließen und folgern: Hitler hat sich - nicht nur aber auch - aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten in den Krieg geflüchtet, mit krimineller Energie.
Jugend gelenkt
Ein neuer „Jahrgang Zehnjähriger wurde auf Hitler „`verpflichtet`..“ „ - Wie bei einem Jahrgang Soldaten!“. „Die HJ war Schule und Elternhaus übergeordnet.“(S. 68) „Bei den `Heimabenden`wurden auch bestimmte Rituale vollzogen, etwa die Überreichung des `Fahrtenmessers`, ein seitengewehrähnlicher Dolch.“(S. 69) Das stand in Verbindung mit der attraktiven Lagerfeuer-, Pfadfinder- und Abenteuerromantik, mit der Jugendliche leicht einzufangen sind. „Ob Jungvolkjunge, Jungmädel, Hitlerjunge oder BdM-Mädchen: Uniform war Vorschrift.“ (S. 71)
Leben im Krieg
Die Bildlegende einer Berliner Illustrierten Ende August 1939 lautete. „Berlin geht baden!“. Ist also weit entfernt von Krieg oder ähnlichem, könnte gefolgert werden. Es war eine der „Verlogenheiten, die für das Regime typisch waren.“(S. 129) Denn am 1. September 1939 begann der 2. Weltkrieg.
Welche Vita diese Floskel kurzfristig und langfristig hatte, dies zu erläutern gebührt allerdings dem Buch.
Lebensmittelkarten, wie sie am Sonntag, dem 27. August 1939 unter das Volk gebracht wurden, blieben bis 1951 in Gebrauch. Es gab ab jetzt keine frei verkäuflichen Waren mehr. Jetzt war Kriegsbewirtschaftung der Bedürfnisse des alltäglichen Verbrauchs angebrochen.
Aufschlussreich, was im Buch nicht nur einmal aufgegriffen wird: Mit der Versorgung mit Hygieneartikeln war es über die ganzen Kriegsjahre schlecht bestellt und das, obwohl die Nation und die Führung sich und die Rasse für so überlegen und so unbarbarisch hielt. Es gab pro Monat nur noch ein Stück „Normalseife“. Diese „war mit Lehm“ (!) gestreckt, schäumte fast gar nicht, die Feinseife mit Luft 'aufgepumpt`, so dass sie auf dem Wasser schwamm...“ (S. 76) Weiteres stellt das Buch vor. „Erste Ersatzprodukte tauchten auf, um im Nahrungsmittelsektor Gewohntes zu ersetzen...“, z.B. „`Waldhofs-Nährhefeflocken mit Speckgeschmack`“. (S.80) Auch gab es naheliegenderweise auch Unterversorgung mit Textilien.
Anfang April 1940 rief Hermann Göring dazu auf, „`dem Führer zum Geburtstag` am 20. April ein `Geschenk` zu machen, indem man..Kupfer, Messing, Bronze, Zinn, Blei- und Edelstahl `spendete`...meinte Otto Neuland sarkastisch: `Das kommt mir aber sehr bekannt vor!`“. (S. 77)
Feuersturm
Der „´Tausend-Bomber-Angriff` auf Köln“(S.105) – Großbritannien hatte im Luftkrieg aufgeholt und überholt - fand am 31. Mai 1942 statt. Es erfolgten dann auch Angriffe auf Städte wie Mainz und Darmstadt. Die meisten Angriffe erfolgten nachts. „Erst im Laufe des Jahres 1943, als auch die US-Luftwaffe den Luftkrieg großen Stils gegen Deutschland begonnen hatte, wurden Tages- wie Nachtangriffe zum Normalfall.“ (S. 106)
Guiollettestraße 25 wurde in der Nacht zum 5. Oktober 1943 zum ersten Mal getroffen.
(S.108) Damit begann eine Serie und Folge von Angriffen, deren Beschreibung dem Leser unter die Haut reicht, ins Innerste trifft. Der Abschnitt zu den Flieger-Angriffen ist zugleich lehrreich, horribile dictu, muss man sagen, er weist genau auf, in welcher Logik und Systematik die Schläge folgten.
Den Brandbomben folgten die Sprengbomben, die in die Brände hineinbombten. Eine Schematik der Beziehungen und Folgen der Angriffslogik zeigt Seite 114. „Unter den Sprengbomben der zweiten Angriffswelle zerbarsten Fenster und Türen, flogen Dächer fort, so dass das Feuer Zug bekam.“(S. 109) Auf diese Weise entsteht ein Sog, der einen Feuersturm nährt, der zum verheerenden Flächenbrand wird. Das war das Ende der kleinen Gässchen der Altstadt. Franz, der schon 1939 zum Eintritt in den HJ-Feuerlöschtrupp aufgefordert worden war - nach dem „Gesetz über den erweiterten Kriegseinsatz der deutschen Jugend“ - war vielfach mitten im Sturm, um seine Schnellkommandoarbeit zu leisten. Das war wie inmitten des Infernos. Was das bedeutete, vermitteln Wendungen wie: „`Tausend Bomber-Angriffe`“, „`Halifax` der RAF (Royal Air Force), stürzte brennend durchs Haus und zerschellte an der gegenüberliegenden Gartenmauer“. (S. 115) Schlagendster Ausdruck aber bleibt: „`Blockbuster`“ - der Wohnblockknacker - ,..“. (S.116), heutzutage eine Bezeichnung für Bestseller oder Kassenschlager, sehr erhellend für einen Zustand der Massenkultur im Rahmen der Kulturindustrie.
Bedenkt man diese Einsätze, so drängt sich der Eindruck auf, dass Franz mit diesen Ausnahmesituationen nicht schlecht klar kam, weil er eine Art sportliches Verhältnis dazu fand oder annahm. Dies gilt übrigens auch für die weiteren „Stationen“ seines Verfügtwerdens im Krieg bis zum so genannten Zusammenbruch.
Diese sind: Einberufungsbefehl; Einrücken zum RAD (Reichsarbeitsdienst) nach Irlbach, Niederbayern am 6. Juni 1944, sadistische Verhältnisse dort durch die „Unterführer“ , unverschämte Ausbeutung.“ (S.135) Da auch wieder: Schlechte hygienische Versorgung. „Wir hatten keine Strümpfe, sondern leinene Fußlappen..“. “Gewechselt wurde..einmal wöchentlich, weil das Großdeutsche Reich zwar gegen die ganze Welt Krieg führte, aber...“ (S.136) Rest kann hinzu gedacht werden.
Selbst im Krieg
„Feuertaufe“ (das erste Gefecht) kam zum Ende der RAD-Zeit. Vor der nächsten „Gestellung“ noch „zu Hause“ gewesen bei der Familie in Bensheim, in der dort bezogenen Unterkunft nach dem schwersten Angriff am 22. März 1944 auf Frankfurt am Main, in dem auch die teilweise später wieder errichteten Highlights Frankfurter Architektur schwer getroffen wurden und nieder brannten. Das Haus Guiollettestraße 25 überstand den Krieg einigermaßen glimpflich und steht heute noch.
Aus dem Dialog Vater – Sohn zu dieser Zeit; Sohn: „Aber wir müssen doch gewinnen!“ - Vater: „Müssen? Müssen? Mit was soll denn dieser Krieg gewonnen werden“. Sohn: „Aber die neuen Waffen...“ - Vater: „Gegen die ganze Welt kommt man nicht an.“ - „Achtzig gegen achthundert Millionen.“ (S.140)
Der Sohn meldet sich freiwillig zur Wehrmacht. Überstellung zur Wehrmacht. Dort beim Zettel-Ziehen-Roulette die „Waffen-SS“-Karte gezogen. Schnell merkend, dass das Ende nahte. Dezimierter, herum schweifender Haufen. Scharmützel noch, gar Gemetzel (Feldwebel wollte unbedingt den Helden machen, statt die Waffe fallen zu lassen). Nach hohem Verlust praktisch dann in die Arme der Amerikaner gelaufen. Viele denkwürdige Szenen erlitten in einem rechtsunsicheren Raum („was Krieg aus Menschen macht“. S.146) Im Kapitel „Die Illusionen schwinden“ am Ende der Satz: „Manchem mag es gedämmert haben, was es bedeutet, die mächtigen Vereinigten Staaten als Feind herausgefordert zu haben.“ (S.148)
„Rheinübergang der Amerikaner bei Oppenheim am 22. März 1945“ (S.149)
Jetzt immer noch etwas weiter bis zum bitteren Ende hin: Gefangenenlager Reims.- Amerikaner ließen andere quälen, um Vergeltung zu üben. „Ehemalige“ der SS wurden zur Lageraristokratie. Das wurde beendet. Aber: “Was Hygiene..betrifft, ist die US Army wohl von niemandem auf der Welt zu übertreffen.“ (S. 151) Franz wurde noch eingesetzt in einer Wartungskolonne für Nähmaschinen. Das entsprach ihm, denn er war ja Lehrling bei Hartmann & Braun geworden...
Am 1. März 1946, ein Jahr später: „Güterzug Richtung Heilbronn“ (S. 160), Heimweg nach Frankfurt über Würzburg, dann in die Nachkriegswirklichkeit in Frankfurt gekommen. Gleich schon Schwierigkeiten bekommen. Ämter ließen ihn fühlen („Arroganz“): „Tut mir leid. Sie haben keine Zuzugsgenehmigung, also kann ich Ihnen keine Arbeit nachweisen!“ (S. 162) Nachwirkungen des Nazi-Regimes. Franz hatte im Februar die Prüfung als Feinmechaniker bestanden.
INFO:
Franz Neuland, Menschen im Frankfurter Westend 1933-1945, 2013
VAS, Verlag für akademische Schriften, Bad Homburg v.d..H.
ISBN 978-3-88864-524-2