Franz Neuland, Menschen im Frankfurter Westend 1933-1945 aus dem VAS-Verlag, Teil 1
Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Was kennzeichnet ein Buch, das auf den ersten Blick oder aufgrund der ersten Erwartung als unspezifisch angelegter, unaufdringlicher kleiner Frankfurt-Band erscheint?
Während dieser doch nach kurzem Lesen als angemessen bebilderter Text um das eigentlich recht überschaubare Wohnumfeld einer Handwerker-Familie in der Guiollettstraße 25 im Frankfurter Westend zu etwas Exemplarischen heranwächst: die Familie gerät, nachdem sie am 1.Dezember 1927 in das dritte Stockwerk eingezogen war, einige Jahre später in immer ungemütlichere und extremer werdende Bedingungen.
Es ist ein Buch um das, was sich in Vermittlung mit dem „Weltgeschehen“ begibt und abspielt. Es ist ein Buch über den Gang einer Familie, was sie tat und was ihr angetan wurde, ihr, die in diesem Haus wohnte und lebte wie die anderen Bewohner, wie auch die Bewohner des weiteren Umkreises. Dies ist eine gute Ausgangsbasis für Anschaulichkeit und gewissermaßen Greifbarkeit des in personeller wie geschichtlicher Hinsicht zu Beschreibenden.
Der Vater der Familie, Otto Neuland, war kein klassischer Bildungsbürger dieser oder jener Couleur, wie er nach heutigem Reflex gern besonders im Frankfurter Westend verortet werden würde, sondern ein Schuhmachermeister, der nach vorübergehenden Wohnunterkünften auf Frankfurter Grund schließlich in der Guiollettestraße 25 mit der Familie, d.h. der Ehefrau und Mutter Franziska, der Tochter Ilse und dem Sohn Franz, Autor des vorliegenden Buches, ansässig wurde. Vater Neuland erweist sich als bildungsoffener und der Erkenntnis der Realität gegenüber offener Mensch.
Reizvoll beschrieben sind die Wohnparteien-Beziehungen im Haus, nicht ohne die unausbleibliche Komik und Tragik-Komik des Alltäglichen in dem so üblichen miteinander Zurechtkommen.
Sorgfältig beschrieben sind die Räume-und Wohnverhältnisse des Mietshauses mit vier Geschossen, es wird eine bestimmte Wohnart jener beginnenden Epoche des angesehenen, gewerblichen und mittelständischen, gebildeteren Bürgertums beschrieben.
Eine sich verändernde Bewohnerstruktur hatte sich weg entwickelt vom Viertel adeliger Familien hin zum gut und gediegen Bürgerlichen. Hier „wohnten jetzt Familien von Beamten, leitenden und anderen Angestellten, Ärzte, Ingenieure, Firmen-Repräsentanten, Facharbeiter, Handwerker der verschiedensten Gewerbe, Bühnenpersonal, die vielen Hausmeister, das zahlreiche Ladenpersonal und nicht zuletzt viele Kraftfahrer - „Herrenfahrer“ genannt..“(S.16). Es war eine vielgestaltig durchgebildete Bürgerlichkeit sich ergänzender Tätigkeiten und Dienstbarkeiten, die sich wachsend eingefunden und geformt hatte.
„Es entstand eine komplette Infrastruktur zur Versorgung mit Lebensmitteln aller Art und mit Handwerker-Dienstleistungen..“ (S.12). So manch reizvollen, ins Persönlichste reichenden Details des Miteinander-Wohnens wird schildernd Rechnung getragen, womit sich das damalige Frankfurt im Kopf des Lesers gleichsam lebensnah rekonstruiert. Es war eine Welt, die durchaus als besichert gelten konnte, wäre da nicht der Hitler ins Milieu eingebrochen, der am Ende fast alles, aber auch alles zunichte gemacht hat an wohl geordnet bürgerlichem Leben. Im Hintergrund dräute seit 1929 bedrohlich die Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit, Steuerausfällen und unausgeglichenen Staatshaushalten. Begleitet durch die Unruhen und Bewegungen, die damit einhergehen.
Schon immer hatten wir uns gefragt: wie kann ein Volk, das jene das Herz heute um so mehr erfreuenden Bauten – wie ähnlich im übrigen Frankfurt der Gründer- und Jugendstilzeit, mit all den schmucken Erkern, neu-romantischen Mittelaltergebälken, Schreinen und aufgesetzten Säulenprofilen - einst hatte schaffen lassen, ja, wie kann eine Gesellschaft einen wählen, der ihr all dies kaputt und klein schlägt, bzw. schlagen lässt. Denn der Bombenkrieg war doch wohl Hitlers verbrecherischer Politik geschuldet und nicht bloß den bösen Engländern oder Amerikanern, die Hitler zu Recht bedingungslos in die Knie zwingen wollten.
Wohl klingende Firmennamen der Umgebung im Westend lauten: Elektrokonzern Lahmeyer, Hartmann & Braun. H & B wird der Leserschaft in den eindringlichen Schilderungen der Bombenkriegstage des 2. Weltkriegs als besonders mitbetroffene Anlage begegnen.
Das Erzählte und Berichtete bewegt sich vielfach um die örtlichen Bezüge, die einer in unmittelbarer Nähe wohnenden Bevölkerung zur Orientierung und Identifikation dienen. So war das alte Opernhaus nicht weit entfernt und die anderen, heute gleichermaßen wenn nicht ebenso anziehenden Fixpunkte dieser Gegend.
Radikal konterkariertes Leben
In diese Idylle – der Ausdruck ist nicht unangebracht, trotz allem, was dagegen steht - brach 1932/33 die NSDAP und Hitler mit seinen verbrecherischen Kumpanen ein und machte das Wohlgeordnete organisiert zunichte. Was dann in Frankfurt, in Umgebung und im ganzen Land, ja in ganzer Welt sich abspielte, war apokalyptisch und wird in den Kriegspassagen beschrieben. Diese Zeitstrecke macht den Hauptteil des Buches aus.
Die Verhältnisse vor und im Gefolge schon ab der Wahl vom 6. November 1932, dann auch der Reichstagswahl vom 5. März 1933 – Hindenburg hatte zuvor „auf Antrag des neuen Reichskanzlers den Reichstag aufgelöst und für den März Neuwahlen festgesetzt“ -, sind ab Seite 19dasThema und der monströse Generalbass bis zum Ende des Buches. Dem Wohleingerichteten in jenen noch nicht so lange angelegten Straßen des Westends wird in jeder nur erdenklichen teuflischen Weise das Bein gestellt, der Todesstoß versetzt. Davon hat sich die Stadt nie „erholt“.
Sehr übersichtlich und nachvollziehbar beschrieben sind die politisch-gesellschaftlichen Vorgänge dieses Zeitumbruchs, der aber nicht zwangsläufig kam. Das Buch ist insofern für schulische Zwecke nicht nur in Frankfurter Schulen vorzüglich geeignet.
Hingewiesen wird auf die verhängnisvolle Rolle des Reichspräsidenten Hindenburg um den 6. Nov.1932 , dem „Ersatzkaiser“, einem bloßen „Werkzeug“ der „ihn lenkenden Hintermänner“, „der wirtschaftlichen Eliten des Landes“, „der Großindustrie und der Großagrarier.“ Denn: „Sie hatten längst auf Hitler gesetzt.“ (S. 21)
Es gab in jenen Monaten vor dem endgültigen Durchschlag Hitlers gegen die noch junge Demokratie am 5. März des Jahres 1933 keine Zwangsläufigkeit hin zur Diktatur. Es war auch ein Versagen von Parteien wie der DNVP („Bundesgenossen aus der `Harzburger Front`“), der „großbürgerlich-schwerindustriellen“ DVP und selbst der Partei „des liberalen Bürgertums“, der DDP, die „zu Hitler übergelaufen war“. Nicht unschuldig war auch das katholische Zentrum, das „zum Wackelkandidaten“ geworden war. (S.21)
Selbst die SPD war nicht unschuldig, denn sie hatte im März/April 1932 die „Wahlempfehlung für Hindenburg bei der Reichspräsidentenwahl gegeben“. (S.25)
Von nun an – aber auch schon beginnend davor - war alles radikal anders. Physische Gewalt wurde zum offenen oder drohenden Element des Alltags.
Der pater familiae Otto Neuland war „felsenfest überzeugt: „Wenn die Nazis einen neuen Krieg vom Zaune brächen...dann würde das mit einer zweiten Katastrophe enden, so wie 1918“. (S. 27)
Stichworte: „“Reichstag aufgelöst“, „SA von der Leine gelassen“, „der staatlich legitimierte Straßenterror“, unter anderem „um den Stadtteil `judenfrei` zu machen“. (S. 37)
„Die Gemeindewahlen in Preußen am 12. März 1933 sahen die NSDAP als absoluten Sieger. Nun liefen auch den Arbeiterparteien nicht nur die Wähler in Scharen davon.“ Zuvor hieß es: „`Karlche Freiheit´“, nun aber „´Heil´!.“ (S.30)
Bei Eröffnung des Reichstags bekam Hitler die Zweidrittelmehrheit für das Ermächtigungsgesetz. „Die Zentrumspartei war `umgefallen`“. (S.31) „Im Reichstag gab nur der Vorsitzende der SPD, Otto Wels, eine würdevolle Erklärung ab: `Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht`“. „Am 22.Juni wurde die SPD verboten“.
(S. 32)
Entscheidender Hintergrund für die Entwicklung, wenn auch nicht mit zwangsläufiger Folge, war „die 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise“. (S. 21)
Dies war eine Krise des aufgeblähten, spekulativen, ungleichgewichtigen Geldsystems. „Jahr für Jahr nahm die Zahl der Betriebsschließungen zu; mit ihnen wuchs das Millionenheer der Arbeitslosen.“ Auch in Frankfurt waren „dreizehn Prozent der Stadtbevölkerung“ Arbeit suchend.“ (S. 22)
Haus, Gegend, Geschichte und Leben im Westend, sind die Impuls gebenden Bedingungen und Voraussetzungen des Buches. Zwar ist nicht alles vollkommen neu, was erzählt oder berichtet wird, aber es ist die besondere Perspektive einer wahrnehmenden und erkennenden besonderen Sicht. Dadurch verhilft dieses Buch zu einer wieder anderen und neuen Erfahrung des Vergangenen. Geschichte und Biographie sind interdependent. Im Buch geht es um das besondere Wie. Fortsetzung folgt.
Foto: Heinz Markert
INFO:
Franz Neuland, Menschen im Frankfurter Westend 1933-1945, 2013
VAS, Verlag für akademische Schriften, Bad Homburg v.d..H.
ISBN 978-3-88864-524-2