Bühne und Salon auf der Frankfurter Buchmesse 8. bis 12. Oktober 2014, Teil 19

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Sofort beim Eintreffen an der Bühne mit dem Extremsten konfrontiert. Aufnahmen der grenzenlosen Entfesselung von Gewalt: Bombardement auf Gaza, ungeschnitten...

 

Durchschlagender Donnerknall, Blitz und Rauch, keine Sicht mehr. Mit dem Verziehen des weißen Staubs taten sich zerstörte Straßenzüge auf, wie nach einer Apokalypse. Groteske Szenerie. Retter schrien umher. Der Blitz-und Donnergott des Kriegs hatte zugeschlagen. Die Erschießungsszene 'am beach' war schon in den Öffentlich-Rechtlichen zu sehen, verkürzt.

 

Auf der Bühne: Khaled Harara (Palästina/Schweden), politisch engagierter Rapper

Mana Neyestani (Iran/Frankreich), Comic-Zeichner, politischer Karikaturist

Moderation: Peter Ripken (Frankfurt), ICORN*

 

Das Programmheft informiert:

 

Khaled Harara veranstaltete im Gaza-Streifen Workshops mit Jugendlichen und lebt heute als ICORN*-Gastautor in Göteborg.-

 

Mana Neyestani arbeitete unter rigiden religiösen Beschränkungen im Iran, bis er 2006 nach 50-tägiger Haft das Land verlassen konnte.

 

Trotz allem: die Diskutierenden blieben die ganze Zeit gut gestimmte junge Leute. Haß war nicht ihre Haltung. Es gab schnelle Rap-Video-Sequenzen zu sehen, die das Bemühen zeigten, der angespannten Situation die Erkenntnis und Verarbeitung des Unverarbeitbaren abzuringen, auch das Lebensgefühl einer jungen Generation zu übermitteln, die ebenso tickt, wie wir in den nördlichen, mittlerweile ziemlich gesitteten Breiten, solange wir noch nicht verformt und vergreist sind. Identifikation ist möglich, ja normal, auch wenn es natürlich keine Deckungsgleichheit gibt.

 

Am gestressten Ort wird in verbliebenen Zwischenräumen kreativ geschaffen. Die Zwischenräume sind das durchgängige Thema der Veranstaltungsreihe. Aus den Lücken, den Nischen heraus rekonstruiert sich die Gesellschaft neu. Das ist in der ganzen Welt so. Die großen Interessengebilde hingegen lösen die Menschheit auf. Die Politik macht mit. Menschen regenerieren sich aus den Kleinzonen.

 

Das Einrichten in verzweifelten Verhältnissen wird an den aufgegebenen Orten zum Dauerversuch. Die anwesende Jugend sagt: Gewalt sei keine Lösung, Friede und Gerechtigkeit gehörten zusammen. Der Mensch als Opfer und das menschliche Wesen dahinter sind zu unterscheiden, um die Lage als zuschauender Mensch zu erfassen.

 

Entscheidend: die Rapper und anderen Kreativen – die heute in allen großen Städten ihren Werken nachgehen - stellen sich erklärt zwischen die Regierungen. Anders könnten sie gar nicht empfinden. Sie sagen: es gibt Hass- und Gewalttreiber auf beiden Seiten, denn es handelt sich um eine spezifische Art der Politik - männliche etwa? -, die einen milderen Dämon gar nicht will, weil sonst ihr Modell - das archaische - keinen Bestand mehr hätte. Es ist also eine Zeit, in der die Vergangenheit über die Gegenwart herrscht.

 

Krieg erscheint den jugendlich Unvorbelasteten als ein Spiel und Sport der alten männlichen Figuren. Führer, die sich davon abwenden, werden umgebracht.

 

Auf beiden Seiten geht es um Geld und Macht, das Elixier der Machthabenden. Sie sind abgedreht vom menschlichen Leben, das ihnen von der Leben erhaltenden Kraft anbefohlen ist. Man hat in Gaza akzeptiert als Zivilist zu sterben. Nach einer durch einen Angriff tödlich unterbrochenen Hochzeitsfeier wurde weiter gefeiert. So wie Leben schon immer nach jeder Katastrophe kurzfristig weitergeht.

 

Gaza ist unregierbar, wie so viele Städte derweil, wenn nicht die meisten, auch wenn sie es selbst noch nicht wissen oder wahrhaben wollen. Das gilt global. Etliche Berichte der FR zur 'Gentrifizierung', d.h. des Krallens von Stadtteilen auf Kosten des lebendigen Lebens der Alteingesessenen, bekamen die Riesenstädte der ganzen Welt nach und nach auf den Schirm. Bekommt denn die Frankfurter Großstadtpolitik das spekulative Überziehen der Stadt mit unpersönlichen Luxus-Bleiben, bei gleichzeitigem Herausdrängen der lebendigen Bevölkerung, die die Kultur schafft und erhält, in den Griff? Herrschen jetzt Investoren über Städte? Die folgend beschriebene Stadt ist Kairo, wenngleich in einem ganz anderen Großraum und mit doch nicht so tödlichen Problemen.

 

 

Im Salon: Kairo - Film: Auf den Dächern von Kairo (Arte)

 

Ein erfreulicheres Pflaster, wenn auch kein einfaches.

 

Es ist in Kairo schon lange üblich, sich auf den Dächern der Mietshäuser einzurichten, sofern diese genügend Dachlagen-Raum bieten. Die Dächer sind flach. Dadurch ist die Möglichkeit gegeben, auf ihnen weiterzubauen, was auch geschieht, wenn auch nicht oder wenig fachmännisch. Aber es funktioniert.

 

Aus dem Programmheft: 'Kleine Wellblechhütten, frische Wäsche auf der Leine und Kinder, die mit Tieren spielen'.- 'Eine dörfliche Szene – mitten in der Millionenmetropole Kairo, in einer Dachsiedlung, wie es sie auf fast jedem der alten Wohnhäuser in der Innenstadt gibt'.

 

100 000 Menschen sollen auf den Dächern leben. Hüttenartige, mehr oder weniger feste Unterkünfte wurden errichtet. Untervermietung ist üblich. Bakschisch auch. Es heißt, es wurde gleich von Anfang an die Nutzung der Dächer eingeplant. Verwandte folgten den Erstbezüglern.

 

Die Dächer sind sowohl Wohnungs- als auch Arbeitsplatz. Das Dach ist Auffangbecken für Bedürftige, Unbehauste, Ungebundene (m/w). Das Dach ist auch ein Ort des Sich-Suchens, des Sich-Findens und der Anbahnung von Vermählungen. Das klappt nicht immer. Frauen produzieren zu einem kleinen Preis Pantoffeln für einen kleinen Markt. Das Dach bildet eine integrierte eigene Gesellschaft. Hausbesitzer könnten die Dachbewohner jederzeit rauswerfen. Es gibt zwei Wohn-Klassen: Wohnung oder Dach.

 

Das Dach war einst Traum für Neuankömmlinge, heute ist jeder für sich. Es ist keine Aufbruchstimmung mehr. Das Land wird wieder attraktiv, bietet aber keine Perspektive. Problem: die Stadt Kairo schiebt sich in die Wüste. Wohnungen stehen leer, um Mieten hochzutreiben. Lukrative Appartements entstehen, die sich immer weniger Menschen leisten können. Infrastruktur wird noch wenig hinterhergebaut. Korruption und Immobilienspekulation sind verbreitet.

 

Die Kinder leben sehr frei auf den Dächern. Das Dach ist ein großartiger Spielplatz, aber auch Platz zum Leben. Man lebt beieinander, unterstützt sich auch. 'Über all sind Augen'. Man kocht gemeinsam. Eine Studentin liest Puschkin, Tolstoi und Dostoijewski. Sie will nicht heiraten. Die Tochter einer anderen Dachbewohnerin schreibt an ihren Hausaufgaben.

 

Saleh ist so etwas wie wie der Primus inter pares. Er steigt viel hinab und herauf am Tag (vier Stockwerke). Saleh hat eine stolze Summe Geldes an seinen ältesten Sohn verloren, der damit durchgebrannt ist. Aber er harrt standhaft seiner Wiederkehr. Seine Überzeugung ist: Allahs Wege sind unerforschlich in der Tiefe ihrer Planung und Vorherbestimmung.

 

 

ICORN – International Cities of Refuge Network (Kooperationspartner)

Bühne: Gaza - Gespräche, Karikaturen, Rap | Salon: Auf den Dächern von Kairo