Serie: Zum 200. Geburtstag der Institution des englischen Großschriftstellers Charles Dickens, Teil 1

Claudia Schulmerich

London (Weltexpresso) – Da hätte jeder darauf kommen können, daß die Geburtstagsausstellung für den vielgeliebten berühmtesten englischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts – na, eigentlich bis heute – im Museum of London stattfindet, denn tatsächlich sind die unsere Herzen berührenden Romane dieses am 7. Februar 1812 bei Portsmouth in Hampshire geborenen 2. Sohnes eines englischen Büroangestellten auch immer ein Porträt dieses industrialisierten Molochs, der Großstadt London.


Von daher stößt man beim Eintreten in die Ausstellung – der Zugang über die Brücke zum Museum ist auch pittoresk, das wie eine mittelalterliche Burg durch einen Burggraben, hier einen Autokreisel abgetrennt, am Barbican Zentrum liegt – auch gleich auf überdimensionierte Leinwände, die einem die Straßenlabyrinthe Londons zeigen, auf denen virtuell dann Personen der Handlungen der Romane auftauchen oder die Schauplätze herausgehoben werden, wo Oliver Twist oder sonstwer gerade in Gefahr geriet.

Wir sind gleich mittendrinnen im Geschehen, denn diese Ausstellung muß sowohl das Leben des Autors – des ersten Massenschriftstellers der Moderne - wie auch das seiner Figuren wie auch die Lebendigkeit Londons im 19. Jahrhundert vorführen und uns dann noch sinnlich vermitteln, was das heißt, damals gelebt zu haben. Dies geschieht durch eine vielfältige Melange aus erklärenden Wandtexten, biographischen Hintergründen, Photographien und Bildern, Originalausgaben der Werke sowie einzelner Manuskripte, seinem Schreibtisch und Stuhl sowie so vieler herrlicher Relikte der damaligen Zeit, von der Schreibfeder über Lampen und Ausstattungsstücke von Wohnungen und Büros, daß  man gleichzeitig eine Ausstellung über Leben und Wohnen im 19. Jahrhundert miterlebt – und eine über die Überlebens- und Arbeitsbedingungen der ärmeren Bevölkerung.

Erst einmal aber wird Dickens eingruppiert ins seine Kollegenschaft, denn der englische, stark auf gesellschaftlichte Prozesse eingehende  Roman wurde nicht von ihm erfunden. Wir sehen also auf alten Fotos oder Zeichnungen und Gemälden mit zugehörigen Lebensdaten und Literaturangaben: John Forster, 1812-1876, William Wilkie Collins 1824-1889, Edward Bulwer-Lytton, 1803-1873, William Makepeace Thackery, 1811-1863 und Thomas Carlyle, 1795-1881 – und sind schon einmal hingerissen in der Erinnerung von Vanity Fair bis The Woman in White, von Den letzten Tagen von Pompeji ganz zu schweigen und nehmen uns eine erneute Lektüre vor. Vom historischen Krimi bis zu Mysterie und Seelendurchleuchtung: alles schon mal dagewesen.

Wir sehen am Anfang der Ausstellung auch Photographien seiner erfundenen Geschöpfe Mrs. Nicklybe und viele andere und sehen Originalaufnahmen von Dickens, sitzend in seinem Studio von 1859 oder zu Hause, gut bürgerlich in der Samt-Haus-Jacke, aber auch auf der Bühne. Ach ja, vielleicht ist dies die zweitwichtigste Erkenntnis, daß Dickens ja nicht nur selbst ein leidenschaftlicher Bühnenschauspieler war, sondern daß seine Romane als Schaustücke bis heute gegenwärtig im kulturellen Gedächtnis Englands ruhen, so daß bestimmte Figuren der Romane unweigerlich Gesichter des 19. Jahrhunderts haben. Wir ahnen schon. Diese Ausstellung, an deren Anfang wir immer noch stehen, wird uns noch länger beschäftigen.  

 Ausstellung bis 10. Juni 2012


Literatur:
Statt eines eigenen Kataloges verweist das Museum auf das Buch DICKENS’S VICTORIAN LONDON 1839-1901, von Alex Werner und Tony Williams. Auf den Katalog hat man verzichtet, weil die vielen Ausstellungsstücke dann zu den jeweiligen Leihgebern zurückwandern und die Darstellung des sinnlich Wahrnehmbaren schwer schriftlich wiederzugeben ist. Das ist richtig und dennoch schade.

Wir stützen uns auf unsere 15 teiligeWinkler Dünndruckausgabe. Tatsächlich sind alle Bücher gelesen, das sieht man noch heute, aber wann, das wissen wir nicht mehr. Allerdings nicht als Kind. Das nämlich ist ein Märchenglaube, daß Dickens ein Kinder- oder Jugendschriftsteller sei. Sein einziger Versuch in dieser Richtung scheiterte kläglich. Groß ins Geschäft kommt die neue Ausgabe von GROSSE ERWARTUNGEN im Hanser Verlag (und der gleichnamige Film von David Leans) und DER SCHWARZE SCHLEIER:NEUENTDECKTE MEISTERERZÄHLUNGEN aus dem Aufbau Verlag.

Seit 1870, seinem Todestag, sind über 200 Biographien über Dickens erschienen. Derzeit wird die neueste von Hans-Dieter Gelfert CHARLES DICKENS; DER UNNACHAHMLICHE im Verlag C.H. Beck angeboten. Die Biographin, die am sichersten zu Hause im 19. Jahrhundert in England ist, Claire Tomalin, arbeitet seit Jahren an einer umfassenden Biographie zu Dickens. Bisher hatte sie auch Frauen in seinem Umfeld porträtiert.

William Raban, ein experimenteller Dokumentarfilmer hat einen Filmessay zusammengestellt THE HOUSELESS SHADOW, in dem wir das London von heute bei Nacht sehen, wozu die Texte von Dickens ertönen, der sich nächtlich durch London bewegte.