Serie: Zum 200. Geburtstag der Institution des englischen Großschriftstellers Charles Dickens, Teil 3

Claudia Schulmerich

London (Weltexpresso) – Wir haben sie nicht gezählt, diese 13 143 Charaktere, Typen, Halsabschneider, ehrsame Frauen, ausgebeutete Kinder, pittoreske Typen aller Gesellschaftsschichten, die die 15 Romane Dickens bevölkern und die vielen Geschichten und Artikel dazu. Aber sie sind keine Schablonen, sondern atmende Geschöpfe, wie sie Dickens – damals in wöchentlichen Fortsetzungen – leben, arbeiten, vegetieren und sterben läßt, glücklich sein auch.

Zusammen mit Shakespeare ist Charles Dickens der berühmteste Autor Großbritanniens und sicher der meist gelesene. Die Ausstellung im Museum of London macht seine Popularität auch sichtbar. Und sie hat sehr viel mehr mit Shakespeare zu tun, als wie hier beim Lesen seiner Romane ahnen können. Denn die abgeschlossene epische Form war Dickens nur das Endprodukt. Tatsächlich verdienten sich seine Magazinverleger eine goldene Nase, wenn Dickens seine Romane in wöchentlichen Fortsetzungen veröffentlichte, wobei Volkes Stimme in Form von Leserbriefen durchaus auf die Entwicklung des jeweiligen Romans Einfluß zu nehmen versuchte und manches Mal auch erhielt.

Sollte der X diese oder jene heiraten, und mußte jetzt das arme Fräulein doch sterben, war für die englischsprechende Öffentlichkeit – also auch Amerika – derart interessant, daß die Fortsetzungen aus der Hand gerissen wurden. Mit Shakespeare hat Dickens auch das Theaterspiel gemeinsam. Nicht nur, daß die Romane, die sich in der Beschreibung von Wirklichkeit wie Filme lesen, auf die Bühne gebracht wurden, sondern Dickens war selber ein Bühnenhengst, jemand, der allzu gerne seine Persönlichkeit in einer anderen austrug – und dies auch professionell konnte.

Es gibt sogar Interpretationen psychoanalytischer Art, die dem Autor bescheinigen, deshalb so erfindungsreich in der Auswahl seines literarischen Personals gewesen zu sein, weil er sich hinter diesen am besten mit seinem eigenen Charakter verstecken konnte. Wie auch immer, die Dickens-Ausstellung zeigt, wie tief sein Gerechtigkeitssinn über Literatur in die ungerechte englische Gesellschaft eindrang und ganz konkret zu öffentlichem Aufruhr, zu Gesetzgebungsverfahren und zu einzelnen Besserungen der sozialen Situation von Kindern und Frauen führte.

Dickens ist der erste, der ein Kind sprechen läßt, und damit Herz und Hirn von Erwachsenen erreicht. Denn neben der sozialen Ausrichtung der Geschichten, hat der Vielschreiber Dickens nicht geschwätzt, sondern auch formal seine Romane komponiert und zudem sprachlich vielseitig bereichert. Wie man als Bettler spricht, wie der feine Herr, wie die junge Dame und der Emporkömmling aus der zweiten Reihe, das alles können die besser nachempfinden, die im englischen Original lesen können und auch mitbekommen, wie viele Wendungen im Englischen Dickenscher Prägung sind.

Das gilt mehr noch als für die Sprache für die Personen. Denn einige von ihnen – nicht wenige – sind Volksgut geworden, wenn man von einem bestimmten Verhalten sprechen will, wird die entsprechende Dickensfigur genannt. In der Ausstellung werden darum auch die Londoner Theater aufgeführt, wo die Dickenstheatralisierungen gespielt wurden oder wo Dickens selber auftrat und die wir noch heute kennen: Sadler’s Wells, Drury Lane, Covent Garden u.a., auch Straßentheater.

Insofern entpuppt sich die Dickensausstellung als eine höchst vergnügliche und informative Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Dazu gehören auch die vielen Gebrauchsgegenstände unter dem Glas der Vitrinen, die gekennzeichnet sind, in welchen Romanen sie vorkommen, begleitet von „echten Antiquitäten“, nämlich den Dickensschen Originalen wie Schreibtisch und Stuhl. Übrigens liegen auf den Sitzbänken überall, angebunden, seine Bücher aus zum direkten Lesen. Das leistet diese Ausstellung auch.

Und dann die Lesereisen. Er ist der erste Autor, der solche unternimmt und sogar 1842 auf dem Schiff mit Amerika anfängt. Dort wird er begeistert empfangen, aber er selbst ist von diesem Land der angeblichen Demokratie nicht so angetan, wähnte er doch in ein Land der Gerechtigkeit zu kommen und sah dasselbe Oben und Unten, dieselben verkrüppelten Verhältnisse wie zu Hause. Dort wird er nun auch zu Lesereisen gezwungen. Er ist eben auch als geborener Schauspieler der beste Interpret seiner Geschichten.

Nein, wir müssen endlich zum Ende dieser Ausstellung kommen, die noch soviel Details aufweist, die liebenswert und schreibenswert sind, wie sein Interesse für den technischen Fortschritt, aber auch die Zauberei und Taschenspielertricks. Dickens wird auch zum 300. Geburtstag ein Autor bleiben, der wie kein anderer, den notwendigen Wechsel von gesellschaftlichen Verhältnissen derart beschrieb, daß seine Leser diesen mit in Gang zu setzen versuchten. Man fragt sich am Ende dieser Ausstellung bange, wo heute eigentlich diejenigen sind, die die Mechanismen einer globalen Welt derart in Worte zwingen können, daß Erkenntnisgewinn und Kraft zur Veränderung in Lesern erwüchse. Wir sehen keinen.

Ausstellung bis 10. Juni 2012

Literatur:
Statt eines eigenen Kataloges verweist das Museum auf das Buch DICKENS’S VICTORIAN LONDON 1839-1901, von Alex Werner und Tony Williams. Auf den Katalog hat man verzichtet, weil die vielen Ausstellungsstücke dann zu den jeweiligen Leihgebern zurückwandern und die Darstellung des sinnlich Wahrnehmbaren schwer schriftlich wiederzugeben ist. Das ist richtig und dennoch schade.

Wir stützen uns auf unsere 15 teiligeWinkler Dünndruckausgabe. Tatsächlich sind alle Bücher gelesen, das sieht man noch heute, aber wann, das wissen wir nicht mehr. Allerdings nicht als Kind. Das nämlich ist ein Märchenglaube, daß Dickens ein Kinder- oder Jugendschriftsteller sei. Sein einziger Versuch in dieser Richtung scheiterte kläglich. Groß ins Geschäft kommen die neue Ausgabe von GROSSE ERWARTUNGEN im Hanser Verlag (und der gleichnamige Film von David Lean) und DER SCHWARZE SCHLEIER:NEUENTDECKTE MEISTERERZÄHLUNGEN aus dem Aufbau Verlag.

Seit 1870, seinem Todestag, sind über 200 Biographien über Dickens erschienen. Derzeit wird die neueste von Hans-Dieter Gelfert CHARLES DICKEN, DER UNNACHAHMLICHE im Verlag C.H. Beck angeboten. Die Biographin, die am sichersten zu Hause im 19. Jahrhundert in England ist, Claire Tomalin, arbeitete seit Jahren an einer umfassenden Biographie zu Dickens, die nun herauskam: CHARLES DICKENS. A LIFE . Bisher hatte sie auch Frauen in seinem Umfeld porträtiert und vor allem über die versteckte Geliebte Nelly Ternan ein Buch als UNSICHTBARE FRAU geschrieben.

William Raban, ein experimenteller Dokumentarfilmer, hat für das London Museum einen Filmessay zusammengestellt, THE HOUSELESS SHADOW, in dem wir das London von heute bei Nacht sehen, wozu die entsprechenden Texte von Dickens ertönen, der sich nächtlich durch London bewegte und dies mit fotografischem Gedächtnis beim Schreiben wiedergeben konnte.