Camilo Sanchez, Die Witwe der Brüder van Gogh, Unionsverlag, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Amsterdam (Weltexpresso) – Tatsächlich fällt die Ungeheuerlichkeit erst beim Niederschreiben der Überschrift auf. Das Buch spricht in seiner Überschrift tatsächlich von der einen, die zur Witwe der zwei Brüder wurde. Welche Ausdruckskraft können einzelne Wörter annehmen, wenn man Sprache so direkt als Ausdruck von Wirklichkeit nimmt.

 

 

Denn genau darum, um die Wirklichkeit der beiden Brüder van Gogh geht es. Johanna van Gogh-Bonger ist die Frau von Vincent van Goghs jüngerem Bruder Theo, der seinen mittellosen Bruder – es heißt doch, van Gogh habe zu Lebzeiten kein einziges Bild verkauft, was nicht ganz, aber fast stimmt – seit Mitte der 80er Jahre mit monatlicher Unterstützung von 150 Francs materiell am Leben hält und durch seine Briefe und Gespräche ideell.

 

Diese Erzählung der Ehefrau von Theo van Gogh tritt ein, als sich van Gogh 1890 in Auvers erschossen hat – die Tragikomödie, daß ihm das nicht auf Anhieb gelang, sondern noch eine Leidenszeit einschloß, einschließlich, daß Selbstmördern kein christliches Begräbnis zukommt, kommt nicht zu kurz. Dieser Selbstmord vom Maler wird der Beginn des Sterbens seines Bruders Theo, der zuvor ein sehr erfolgreicher Verkäufer von Kunst in der Kunsthandlung Goupil & Cie war, in deren Dependance in Paris Theo Anerkennung und ein gutes Gehalt bezog. Denn der Ehemann von Johanna ist seinem Bruder in tiefer Liebe und Sorge verbunden. Deshalb hält er seinen Lebenswillen auch nur bis zum Tod des Bruders am 29. Juli 1890 aufrecht und stirbt nach diesem dahin.

 

Mit dem Tag des Selbstmordes von Vincent beginnt also das Sterben des jüngeren Bruders, dem die junge Witwe in diesem Roman beredt Zeugnis gibt. Diese Johanna, eine aufrechte, also auch standfeste, Wind und Wetter aushaltende Johanna der seelischen Widrigkeiten, erzählt uns vom Geschehen, was Camilo Sánchez in dieser Form nur glaubwürdig transportieren kann, weil diese Johanna Tagebücher und Tagebuchnotizen hinterlassen hat, die im Roman einen großen Raum einnehmen. Es ist das Geschick des Autors diese auktorialen Anteile in die Erzählung über das tägliche Leben nach dem Selbstmord Vincents einzufügen, so daß wir dabei sind, wenn der Bruder und Ehemann Theo ein halbes Jahr nach dem Selbstmord von Vincent selbst stirbt. Organisch bedingt, aber letzten Endes ein Selbstmord auf Raten, den wir über die Ausbrüche, die Krankheiten, den Klinikaufenthalt von Theo mitverfolgen. Auch er landete in einer Nervenheilanstalt, wie man die Psychiatrie euphemistisch bezeichnete.

 

Woher diese Frau die Kraft hatte, das Sterben der beiden Männer durch Weiterleben zu beantworten, hat sicher zum einen mit ihrem Sohn Vincent – diesen Namen Vincent hatte der sofort als Baby verstorbene älteste Bruder erhalten, das zweite Kind tauften die Eltern erneut Vincent, das wurde der Maler, und das Kind vom jüngsten Bruder Theo, das Johanna gebar, hieß ebenfalls wie sein Onkel Vincent - zu tun, woraus man auch die Liebe des Bruders Theo, aber auch die Mitliebe seiner Ehefrau zum Maler Vincent van Gogh erkennen kann. Der Neffe, sozusagen der dritter Vincent in der Familie, wurde unmittelbar vor des Malers Selbstmord geboren. Zum anderen zieht Johanna Kraft aus den Bildern van Goghs, die sich zu Hunderten in ihren Wohnungen stapeln und denen sie auf dem Kunstmarkt den Weg ebnet, was beide van Goghs nicht vermocht hatten, weshalb auf der Titelrückseite gedruckt steht: „Hinter dem späten Triumph von van Gogh steckt die Kraft einer Frau.“

 

Das alles beeindruckt sehr. Wir lernen sie bewundern, diese Johanna, aber den Autor Sánchez auch, denn er nutzt die intimen Aufzeichnungen der jungen Frau – sie ist immer noch keine Dreißig, als sie die Witwe der Brüder wird - als inneren Beweggrund für ihr Handeln, das dann wieder die äußere Welt und den Kunstmarkt betrifft, deren Bindeglied zwischen Innen und Außen die Bilder sind, die in den Augen, den Gefühlen, dem Hirn und der Liebe von Johanna zu farbenfrohen, positiven, die Welt verschönernden Farbräuschen wird.

 

INFO:

 

Camilo Sanchez, Die Witwe der Brüder van Gogh, Unionsverlag 2014