Serie: FRANKFURT LIEST EIN BUCH: Mirjam Pressler, „Grüße und Küsse an alle“ vom 13. bis 26. April, Teil 16

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Alice Frank ist die Großmutter von Anne Frank, deren warmherziger Umgangston und deren liebevolles Begleiten des Großwerdens ihrer vier Kinder in allen Äußerungen der Familienmitglieder deutlich wird. Sie spielt neben ihrer Tochter Leni und dem Enkel Buddy eine der drei Hauptrollen im Buch über die Familie Frank, aus dem Constanze Becker in der Bildungsstätte Anne Frank las.

 

So lauten die dürren Worte, hinter denen sich sehr viel mehr verbirgt. Erstens ist eine szenische Lesung angekündigt, was miteinschließt, daß der Klarinettist Roman Kuperschmidt Klarinettentöne erklingen läßt, die als 'mit Musik' angekündigt sind, aber doch mehr bedeuten, denn die sowohl wehmütigen wie fröhlichen, immer dahinwehenden Melodien sind uns Klezmermusik, obwohl wir gar nicht wissen, ob das so gemeint ist. Es ist ein Geheimnis um die Töne, die in uns Empfindungen wecken und ein kurzes Innehalten im Leseprozeß bedeuten, in dem wir mit so viel Schicksal und Schicksalen konfrontiert werden.

 

Und Constanze Becker? Dazu muß man in Frankfurt nichts sagen. Seit ihrem Beginn am Frankfurter Schauspielhaus 2009/10 mit dem Projekt Ödipus/Antigone von Michael Thalheimer ist sie am Frankfurter Theater das, was man früher eine Heroine nannte. Kein Wunder, daß diese Veranstaltung zu denen gehörte, die innerhalb der fast 90 Darbietungen in zwei Wochen total ausverkauft war. Liebevoll hatte Organisator Samuel Weinberg erst einmal nicht nur für die Bequemlichkeit seiner beiden Protagonisten gesorgt, sondern auch den Raum leicht abgedunkelt und mit einer angezündeten Kerze die Atmosphäre vorgeben, der die Zuschauer gerne folgten.

 

Zuvor aber sprach Samuel Weinberg und bat die anwesende Witwe von Buddy Elias, die wunderbare Gerti Elias nach vorne, die nun schon in der zweiten Woche die Rolle ausfüllt, die ihrem gerade verstorbenen Mann zugedacht war. Gleichzeitig, das erzählt sie im Gespräch, wird dadurch ihre Trauer auch kanalisiert, indem sie für ihn und statt seiner das macht, worauf er sich seit Monaten so sehr gefreut hatte: die Rückkehr seiner Familie nach Frankfurt, zumindest in Form des Buches, zumindest in Form dieses Lesefestes. Daß er auch den Nachlaß der Anne Frank zu großen Teilen nach Frankfurt ins Jüdische Museum gab, kann man nicht immer wieder erzählen, aber doch immer wieder einmal.

 

Nun bat Samuel Weinberger, der Buddy Elias gut kannte, zu einer Schweigeminute für den Verstorbenen. Richtig, bei all den anderen Veranstaltungen war das unterblieben, einfach, weil man sich bei einem Lesefest nicht so darauf einrichtet. Alle erhoben sich und nun passierte etwas Sympathisches. Weinberger hatte längst abgewunken und zum Sitzen aufgefordert, aber alle blieben über die Minute hinaus stehen. Dann sprach Gerti Elias über Alice, die Mittelpunkt der Familie war und sehr an Frankfurt als ihrer Heimat hing, sie erzählte nur kurz, wie sie im Dachboden in Kisten verteilt eher zufällig diese Briefe – an die 10 000 Seiten – fand und wie enthusiastisch ihr Mann sich auf Frankfurt gefreut hatte. Und dann begann Constanze Becker.

 

Gleich mit dem Anfang auf Seite 15 nach dem Prolog, wo in Basel 1935 Alice zu ihrem 70sten Geburtstag am 22. Dezember ihren vier Kindern einen Brief schreibt. Das ist raffiniert, auch raffiniert für ein Familienleben. Die Kinder, längst groß und selber Eltern sind ja gekommen, aber Alice nutzt die Gelegenheit und schreibt nieder, was sie ihren Kindern als Reflexion auf ihr Leben immer schon einmal sagen wollte. Gleichzeitig zeigt uns Mirjam Pressler ihre Schreibkunst, wie sie nämlich vor dem Brief, den sie ja vorfand und nun erzählerisch einkleiden mußte, eine Stimmung herbeischreibt, die den Brief als Botschaft erst so richtig deutlich macht. So beginnt Constanze Becker: „Alice lehnt am Fenster zur Straße, die Arme auf die Fensterbank gestützt, und beobachtet durch die Scheiben, wie sich der Abend über die Stadt, senkt. Sie liebt die Dämmerung, die blaue Stunden zwischen Tag und Nacht, hat sie schon immer geliebt...“ und sie ist jetzt die dritte, die in der Ausführung des Textes, diese komponierte Melange aus Erzählung, direkter Anrede und Aufkommen von Kindheits- und Sehnsuchtsgefühlen ausdrücken kann.

 

Tatsächlich hat es dieser Brief in sich, der auf Seite 21 im Faksimile steht und dessen gedruckte Fassung Teil des Textes ist. „Wie wenig wissen doch Kinder im allgemeinen von der Jugendzeit der Eltern. Die Enkel können sich noch weniger einen Begriff machen, daß wir jung waren, wie sie es jetzt sind.“ (Seite 23) Dann unterbricht die Erzählerin Mirjam Pressler den Brief, erläutert geschickt manches aus dem Geschriebenen, fügt weiteres zur Erklärung bei, die als Erinnerung der Alice beim Schreiben dann so wirkt, als ob es wirklich in Alices Gedanken und Gefühlen so gewesen sei, was Constanze Becker jetzt träumerisch nachvollzieht. Und dann wieder die Klarinette von Roman Kuperschmidt.

 

Wir können unmöglich die ganze Lesung so wiedergeben, wollten aber die Stimmung und die Methode – sowohl des Buches wie auch der szenischen Lesung – vermitteln. Jetzt ging es lange um Otto, den einen der drei Söhne der Alice, neben Leni der Tochter, die diesen Erich Elias heiratet, der mit ihr 1929 nach Basel geht – aus wirtschaftlichen Gründen, weil er dort die Vertretung von Opekta – die Älteren erinnern sich, daß es ohne Opekta keine Marmelade gab, das Pektin war nötig - übernehmen kann. Später wird er daran mitwirken, daß Otto nach Amsterdam in der selben Funktion eine Filiale von Opekta in den Niederlanden aufbaut, weshalb er schon 1933 nach Amsterdam geht, die Kinder mit seiner Frau Edith bis zu Beginn 1934 bei den Schwiegereltern in Aachen läßt, während Alice am 21. September 1933 ihre Heimatstadt verläßt und zu ihrem Schwiegersohn Erich und Tochter Leni nach Basel zieht , sogar nach dem Hausverkauf Möbel mitnehmen darf. Damit ist das jahrhundertelange Leben der Franks und Elias' am Main beendet. Wenigstens sie und die nach Basel Gezogenen durften überleben.

 

Sehr wehmütig sind all die Passagen vom Briefverkehr mit Otto, aber auch mit den Enkelinnen. Offen kann ja der Sohn nicht aus Amsterdam schreiben, daß er mit der Familie untertauchen wird und alles schon vorbereitet hat. Also sagt er mit anderen Worten in einem Brief am 4. Juli 1942: ...“Seid jedoch in keinem Fall beunruhigt, auch wenn Ihr wenig von uns hört...Wir vergessen Euch nicht und wissen, daß Ihr stets an uns denkt...“(Seite 161) und dann heißt es weiter: „Damit war die Korrespondenz zwischen Amsterdam und Basel zu Ende, die dunklen Jahre hatten begonnen.“

 

Und mit der letzten Musik war auch die szenische Lesung zu Ende, was die Zuhörer mit wirklich langem, lauten Applaus erwiderten.

 

Wenn man das Buch kennt, wundert man sich wieder einmal, wie oft man einzelne Passagen dennoch erneut hören kann, weil sie je nach Situation und auch nach Ausdruckskraft, wie hier durch Constanze Becker, eine tiefere Bedeutung erhalten. Wer das Buch noch nicht kannte, der, so denken wir, mußte einfach danach das nicht teure Taschenbuch erwerben, um zu erfahren, wie es mit Leni und Buddy weitergeht, zumal Gerti Elias es gerne signierte. Denn, das erzählt sie weniger, ist aber Tatsache, sie hat nicht nur die Briefe gefunden, sortiert und transkribiert, sondern hat auch mit Mirjam Pressler die Auswahl besorgt, weshalb diese sie immer als ihre Coautorin vorstellt. Fortsetzung folgt.

 

 

 

Foto: Constanze Becker © Birgit Hupfeld

 

 

 

Info:

Veranstaltung am 20. April. 

Die Bildungsstätte Anne Frank in der Hansaallee 150, Achtung, Eingang ist von der Seite, hat in Samuel Weinberg einen enthusiastischen Organisator. Das Haus zu besuchen, ist auch ohne Programm interessant. Ansonsten einfach einmal auf die Ankündigungen achten, was dort alles passiert.

 

Mirjam Pressler/Gerti Elias „Grüße und Küsse an alle“

Die Geschichte der Familie von Anne Frank

Fischer Taschenbuch Verlag

432 Seiten. Kartoniert.

10,99

ISBN 978-3-596-18410-1