ROBERT LONGO – CHARCOAL im Hatje-Canz Verlag
Helmut Marrat
Weltexpresso (Hamburg) – Warum mag ich das Buch nicht? Und warum bewundere ich es zutiefst? Warum meide ich es? Und warum zieht es mich immer wieder an?
Diese Frage beantwortet Robert Longo auf gewisse Weise selbst, wenn er im Vorwort zu seinem Buch sagt: "I never liked charcoal, it always seemed so messy and imprecise." - Übersetzt: 'Ich habe Zeichenkohle nie leiden können, sie schien mir immer so unordentlich und ungenau.' - Vielleicht äußert sich hier auch meine eigene Abneigung gegen Zeichenkohle, wenn ich sage: "Man möchte sich die Hände nicht schmutzig machen!", könnte man denken. Aber es ist noch etwas anderes: Wenn ich mit Pastellkreide arbeitete, färbte das ebenso ab; auch mit Ton oder Wachs oder Knetmasse zu arbeiten, hinterläßt seine unübersehbaren Spuren. Es liegt also nicht am Einschmutzungsgrad ... Es muß am Material liegen: An der Kohle, genauer der Holzkohle.
Vielleicht spielt das Unreine ihres Charakters eine Rolle: Angebrannt, aber nicht verbrannt, ein Zwischending. Dann – entsprechend den ehemaligen Zweigen – meist schief gewachsen; gerade, präzise Stücke gibt es nur selten.
Novalis (1772 – 1801), der nicht nur Dichter und Philosoph, sondern auch Jurist und später Bergbauingenieur war, weist im "Heinrich von Ofterdingen" auf die Verwandtschaft zwischen allerdings Steinkohle und Diamanten hin. Heute lassen manche die Asche ihrer Angehörigen zu Diamanten pressen! Sie können dann ihren Mann, ihre Frau oder Onkel Heinrich und Tante Carla an einer Halskette baumelnd tragen ... (Zumindest sonderbar.)
Ebenso unangenehm aber wie die weichere Holzkohle ist mir immer Gips gewesen; vielleicht weil er die Haut aussaugt. Und immer wieder, wenn man doch mit Holzkohle oder Gips arbeitete, stellte man fest, dass es so schlimm doch nicht sei ...
Diese Erfahrung hat auch Robert Longo gemacht. Es war Ende 1999, während der Weihnachtsferien, die er mit Muße in seinem New Yorker Atelier zum Zeichnen verwenden wollte. Aber er fand keine Zeichenstifte! Das einzige, was sich ihm anbot, waren alte Zeichenkohle-Stöckchen und ein versiegeltes Einmachglas mit Holzkohlenpulver. Er war drauf und dran, alles hinzuschmeißen - und zu gehen. Der Buchtitel verrät, dass er genau das aber nicht tat, sondern sich entschloss, die Herausforderung der ungeliebten Kohle anzunehmen.
An der Wand über Longos Zeichentisch hing das Foto einer gigantischen Welle, das er aus einem Surf-Magazin herausgeschnitten und dort befestigt hatte. Longo hatte gerade im Sommer seinem Sohn das Surfen beigebracht. Diese bewegte Welle, kurz vor dem Bruch, faszinierte ihn. Jetzt starrte er auf sie und wurde mehr und mehr in ihren Sog hineingezogen.
Die ersten Striche fielen aufs Papier. Und Longo nutzte seine ganzen Weihnachtsferien, mit Holzkohle und Holzkohlenstaub diese Welle auf eine großformatige Leinwand zu bannen. Aus einer Verlegenheit wurde die Chance: Eine neue Tür öffnete sich, und Robert Longo hat seitdem den frei liegenden Raum dahinter beachtlich gefüllt wie lange kein Anderer, hat damit der Kohle eine ganz neue Aufmerksamkeit verschafft.
Die Welle blieb nicht das einzige Bild, das Longo mit Kohle und Kohlenstaub halb malte, halb zeichnete. Es ist tatsächlich ein mittlerer Weg. Die Formate, in denen Longo arbeitet – und allzu naheliegend wäre zu sagen: Seinem Namen gemäß -, sind oft gigantisch; meist Querformate: Mehrere Meter breit und über einen Meter hoch. Wie extreme Kinoleinwände. Longo kommt auch von der Performance, Video-Kunst und Fotografie.
In diesem beachtlichen Bildband, der nicht glatt-gelackt wie so viele Kunstbände aussieht, sondern karg ist, schroff und hart, sind diese Bilder (und Bildausschnitte) schon eindrucksvoll. Aber der Bildband von Hatje-Cantz ist ein Hochformat: Die Höhe entspricht DIN-A-4, das Buch ist aber 4 – 5 cm breiter: Ein wuchtiges Buch. Den Formaten von Robert Longo angemessen. Der ganze Band ist straff Schwarz-Weiß gehalten: Die Kohlezeichnungen und -bilder sind fast immer auf rechten Seiten abgedruckt. Die gegenüberliegende Seite dagegen ist Weiß. Ausnahmen, aber viele, bilden doppelseitige Abbildungen. Dadurch wirkt das Buch auch so prall gefüllt. Und dann: Das Buchverfügt nicht - was es früher bei Klassiker-Bänden gab – über einen Goldschnitt (also eine rundum laufende blattgold gefärbte Außenseite des gesamten Seitenstapels), sondern, wenn man so will, über einen Kohleschnitt.
Auch alle Kapitelnamen stehen Weiß auf schwarzem Grund. Und auch hier: Mattschwarzem Grund, der Kohle ähnlich, und auch hier etwa nicht gelackt oder speckig. Das Buch macht es einem nicht leicht. Es soll dem Mal- und Zeichnmaterial entsprechen. Es soll stumpf sein und gleichsam Energie einsaugen, statt sie wohlgefällig freizugeben. Genau das schafft diese sonderbare Spannung zwischen Abstoßung und Anziehung.
Was den Betrachter letztlich immer wieder anzieht, ist die unglaubliche Detail-Genauigkeit dieser Bilder! Oft ist man im Zweifel, ob man nicht eigentlich ein Buch mit Fotografien in den Händen hält. Hier gibt es zum Beispiel ein altes verwahrlostes Tor, das zugemauert wurde und dessen Pfeiler schon von Efeu bewuchert sind. Das Bild heißt "Trotsky's Gate" (2004). Zeigt es das vermauerte, aber noch nicht ganz vergessene Vermächtnis Trotzkys? Oder ist das historische kommunistische Russland damit gemeint? Oder die nach einem ersten mißglückten Attentat im Mai 1940 zu einer Festung umgebaute Villa Trotzkys in Mexiko-City? Das Original-Bild mißt 218,4 x 152,4 cm. Die Abbildung im Bildbuch knapp 23 x 16 cm, also etwas über 10% des Originals – und ist doch eindrucksvoll. Natürlich ist das Erlebnis, die Originale kennenzulernen – ich sah sie als große Überraschung in Budapest -, selbst durch einen so niveauvollen Bildband wie den von Hatje Cantz nicht zu ersetzen. Das ist auch kaum das Ziel. Der Bildband ist eine Gedächtnisstütze, eine Abbreviatur. Schon in seinen Maßen. Aber auch hier: Die Mauersteine (Backsteine) der Pfeiler, die Efeu-Blätter, die Metallstreben und dann vor allem die an-, teils weggerosteten Bleche im unteren Bereich des Tores sind beeindruckend echt gezeichnet, bestäubt, gewischt, gemalt!
Holzkohle als Zeichenmittel ist bereits in den Urzeiten der Menschheit gebräuchlich gewesen. Viele Höhlenzeichnungen sind Holzkohlenbilder. Später wurde die Kohle dann vor allem zum Skizzieren und Vorzeichnen verwendet, da sie auch leicht wegwischbar ist und Zeichnungen deshalb leicht korrigiert oder verändert werden konnten. Erst mit der Renaissance, die den Wert der Handzeichnungen selbst erkannte, wurden Holzkohlenblätter nicht nur als Vorstufe, sondern auch als Selbstzweck geschaffen. Immer aber muß Holzkohle ihrer leichten Verwischbarkeit fixiert werden. Auch hier gab es technische Verbesserungen seit dem Mittelalter. Dazu verwendete man Leimbäder. Später wurde in Italien, im frühen Barock, die Möglichkeit entdeckt, die Holzkohlestäbein Öl zu tauchen und sozusagen gleich mit eine selbstfixierende Masse aufzutragen. Der Nachteilwar allerdings, dass das Öl auf dem Papier gelblich sichtbar blieb. Heute läßt sich durch Aufsprühen ein Kohlezeichnungsblatt leicht fixieren.
Robert Longo beschreibt seine eigene Arbeitsmethode folgendermaßen: "First, a heavy layer of charcoal is rubbed into the paper by my hand, creating a dense velvet-like surface. I use charcoal that range in density, tonal value, and colour of the blacks. Then I apply charcoal powders with brushes. Various types of erasers play an integral role in carving out and sculpting the image. The white in the drawings is always the untouched surface of the paper." (Übersetzt: 'Zuerst reibe ich als Grundierung eine satte Schicht Kohlenstaub mit der Hand in das Papier ein, bis ich eine dichte, samtene Oberfläche erhalte. Ich verwende Holzkohle, die in Bezug auf Dichte, Tönung und Farbe zu den schwärzesten gehört. Dann bringe ich eine Menge Holzkohlenpulver mit Bürsten auf. Verschiedene Kratzgeräte, Radiergummis, Schwämme spielen eine wesentliche Rolle, um das Bild auszugraben und gleichsam herauszuschnitzen. Das Weiß innerhalb meiner Zeichnungen ist immer die unberührte Oberfläche des Papiers.') - Es ist also fast ein Sgraffito-Verfahren, mit dem Robert Longo seine Bilder herstellt.
Und auch das bestimmt den Charakter dieser interessanten Bilder mit: Sie werden gleichsam ex negativo gewonnen. - Die Grundierung dürfte aber demnach nicht das ganze Bild bedecken. Robert Longo muß schon von Beginn an eine Vorstellung davon haben, wodas Weiß als als Kontrast oder Höhung stehengelassen werden soll. "Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, d a ß e r d e n S t o f f d u r c h d i e F o r m v e r t i l g t ; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit s e i n e r Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet." -So äußert sich Friedrich Schiller (1759 – 1805) im "22. Brief" seiner "Ästhetischen Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen", entstanden von 1793 bis 1795.
Robert Longo hatte sein Unbehagen gegenüber der Zeichenkohle deutlich geäußert. All die von ihm aufgezählten Nachteile wie mangelnde Genauigkeit und Unreinheit hat er versucht zu überwinden. Bei Robert Longo könnte man von fotografisch gebrauchter Holzkohle sprechen: Denn, wenn er eine von Einstein in Princeton beschriebene Schultafel malt (2004); ein abendliches Passagierflugzeug (2009), bei dem das gedämpfte Licht aus den kleinen Fenstern leuchtet; den Cadillac seines Vaters präzise wiedergibt (2009) – im Buch übrigens aus wirkungstechnischen Gründen spiegelverkehrt wiedergegeben -; ein Rockkonzert (2009) oder das Dékolleté mehrerer Frauen (2008); den Helm eines Düsenjägerpiloten (2008 - 2009), der ihm nur noch ein insektenhaftes Aussehen verleiht; wenn er verschiedene Frauen in der beschränkenden Burkazeichnet (2010 - 2011) – so auch seine Ehefrau, die bekannte deutsche Schauspielerin Barbara Sukowa (*1950) -; wenn er Atompilze wiedergibt (2003 - 2008) oder die Praxisräume von Sigmund Freud (2001 - 2003) ... - man denkt mehr als einmal an kunstvolle Fotografien.
Auch Skurriles und Märchenhaftes bildet Robert Longo nach: Die gefährlich geöffneten Rachen von Haifischen (2007 – 2008); einmal in Rot-Tönen, gehöht, eine Serie von Rosen, die "Ophelia" heißt (2004 - 2011) und an Shakespearers hilflos tragische Gestalt im "Hamlet" gemahnt; oder eine Serie von schlafend-träumenden Säuglingen (2007).
Eine andere Serie behandelt religiöse Räume: Ein großflächiges Bild, das er "North Cathedral" nennt (2009) und das den Chor des Prager Veitsdoms mit seinem Triforium zeigt; auch den Petersdom gibt Longo wieder (2011) oder die Kaaba in Mekka (2010). - Und er wendet sich auch dem Weltraum zu, den Planeten, zeigt uns etwa den entfernten Saturn mit seinen Ringen (2007) – auch er im Buch spiegelverkehrt wiedergegeben - ... und nicht zuletzt die an Hokusai's Welle (um 1830) erinnernden Surf-Wellen—Bilder (1999 - 2006), mit denen alles begann.
Drei zwischengeschaltete kunsthistorische Beiträge von Hal Foster ("The American Friend"), Thomas Kellein ("A Kingdom of Images") und Kate Fowle "The World is a Circle") runden zusammen mit einem Anhang, der uns Robert Longos Atelier zeigt, sowie einer Zeittafel das Buch ab. - Einziger Nachteil: Die allzu spärlich eingedruckten Seitenzahlen, die das Auffinden der einzelnen Bilder im Anhang unnötig mühsam machen! Hier hätte man die Kapitel optisch deutlich (und hilfreich) absetzen können ... - Ansonsten: Eine lohnende Anschaffung für jeden Kunstliebhaber ...
Info:
Das Buch ist 2012 im Hatje Cantz Verlag erschienen. - Robert Longo - (der äußerlich ein bißchen an Lou Reed (1942 – 2014) erinnert) - wurde 1953 in Brooklyn /New York geboren und lebt in New York.