Über Hitler. Eine Biographie von Peter Longerich, Teil 1/2
Elvira Grözinger
Berlin (Weltexpresso) - „Zum Einzigartigen, das mit dem Namen Hitlers verbunden ist, gehört seine unverminderte Gegenwärtigkeit“. (Joachim Fest, 1995)
Die Deutschen kommen von Hitler nicht los! Dabei hatte Hitlers Herrschaft und sein 12 Jahre währendes „3. Reich“ eine bis dahin nicht gewesene Bilanz von über fünfzig Millionen Toten durch Krieg und Völkermord. Er veränderte das Gesicht Europas und der Welt noch einmal nachhaltig, nachdem schon der Erste Weltkrieg die Welt aus den Fugen gehoben hatte! Seit der schon 1973 erschienenen Hitlerbiographie von Joachim Fest, die mit ihren 1228 Seiten hierzulande über Jahre als die maßgebliche Darstellung Hitlers und seiner Zeit galt und Neuauflagen erlebte, ließ das merkwürdige Interesse an der Person des deutschen Diktators nicht nach. Es gab aber auch die vieldiskutierten Studien zu Hitler wie die des 2004 verstorbenen britischen Historikers Alan Bullock – Hitler: A Study in Tyranny von 1952 sowie mehrere Bücher über ihn – zum Beispiel Hitler and Stalin: Parallel Lives, 1991 – von Ian Kershaw.
2012 kam der satirische Roman Er ist wieder da des deutschen Publizisten Timur Vermes. Darin erscheint der wiedergeborene Hitler im Jahre 2011 in Berlin, er denkt, es ist noch das „3. Reich“, er selbst wird für einen Schauspieler gehalten, der Hitler spielt, usw. Die Konstellation erinnert etwas an den Film „Goodbye Lenin“, in dem die aus dem Koma erwachte Frau nichts von der Wende mitbekommen hat und ihr Sohn ihr zuliebe die Wahrheit verschweigt, um bei ihr keinen Schock zu verursachen. Sogleich zum Bestseller avanciert, wurde der Roman auch verfilmt und sogar ins Hebräische übersetzt. 2015 erschien Thomas Sandkühlers Hitler-Biographie (Adolf H. Ein Lebensweg) die als Jugendbuch konzipiert wurde. Und im gleichen Jahr publizierte Peter Longerich seine wiederum monumentale Hitler-Biographie von insgesamt 1296 Seiten, von der im Folgenden die Rede sein wird. Anfang 2016 konnte das Münchener Institut für Zeitgeschichte, da das Urheberrecht erloschen war, nach langjährigen Kontroversen über das Für und Wider eines solchen Vorhabens zwei großformatige Bände von 1966 Seiten herausbringen, die kommentierte Neuauflage von Adolf Hitlers Mein Kampf, über die sich die Geister scheiden. Man fürchtet nicht zu Unrecht, dass obwohl Mein Kampf seit 1945 in einschlägigen Kreisen und im Internet kursierte, die Neuauflage ihm in rechtsextremen Kreisen eine fatale Neuaktualität verleihen könnte, da es nun mit den Weihen der Wissenschaftlichkeit versehen wurde. Das Argument der Herausgeber war, dieses Machwerk und die Person Hitlers des Nimbus zu berauben, das seinem Namen anhaftet. Ob ihnen das gelingen wird, ist zu bezweifeln.
Schon Fest hatte 1995 konstatiert, dass Hitler keineswegs historisch geworden ist, sondern im Gegenteil dabei ist, ein Mythos zu werden, der für alles Finstere und Abscheuerregende einsteht. Seither sind neue Erkenntnisse aufgrund von Dokumente und Quellen in Archiven und Bibliotheken, aus denen man schöpfen kann, noch zahlreicher geworden, so dass Longerich diese mit verwenden konnte, um seine Version Hitlers und dessen Zeit nachzuzeichnen. Mein Kampf wurde von ihm natürlich ebenfalls herangezogen wie auch Aussagen von Gefährten und Zeitgenossen. Peter Longerich, Jahrgang 1955, ist Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London, Gründer des dortigen Holocaust Research Centre und ist auch seit 2013 an der Universität der Bundeswehr in München als Spezialist für die Geschichte des Nationalsozialismus tätig. Zu seinen Buchpublikationen gehören Politik der Vernichtung (1998), Davon haben wir nichts gewusst! (2006), Biographien über Heinrich Himmler (2008) und Joseph Goebbels (2010), nun gefolgt von der Hitler-Biographie.
Während Fest Hitlers „exzessiven Charakter“ betont („Niemand hat so viel Jubel, Hysterie und Heilerwartung erweckt wie er; niemand soviel Haß…. Hitlers eigentümliche Größe ist ganz wesentlich an diesen exzessiven Charakter gebunden: ein ungeheurer, alle geltenden Maßstäbe sprengender Energieausbruch.“), ist er für Longerich jemand, der bis zum Ersten Weltkrieg ein „bedeutungsloser Niemand“ war und kein „Genie“, zu dem man ihn stilisiert hatte. Longerich geht in der Analyse von Hitlers Charakter und Werdegang psychologisierend vor. Zuvor hatte er mit Psychoanalytikern und Psychotherapeuten zusammen gearbeitet. Ihm scheint daher plausibel, was Hitler selbst später behauptete, dass die Beziehung zum despotischen Vater der Schlüssel für seine Persönlichkeitsentwicklung gewesen sei; Longerich sieht hierin jedoch auch den starken Einfluss der überfürsorglichen und verwöhnenden Mutter, die früh an Brustkrebs starb. Dabei darf man nicht vergessen, dass Hitler wenig Glaubwürdiges über sein Leben preisgegeben hat, seine Person stets mythologisierte und mystifizierte. Doch auch Fest hat schon auf die Herkunft, frühe Prägung und Zeitstimmung als Elemente hingewiesen, die Hitler und seinen „Todesenergie“ erklären, gepaart mit dem Einfluss der kulturpessimistische Tendenzen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dazu gehört Richard Wagner, Hitlers Lieblingskomponist, von dem er die „Schönheitsrituale“ übernommen haben soll. Über Hitler kursieren seit jeher Gerüchte – er habe unter Drogen gestanden, hätte nur einen Hoden, wäre homosexuell usw. Davon erfahren wir hier wenig, diese Spekulationen überlässt Longerich anderen Autoren.
Longerich unterstreicht wiederholt Hitlers depressive Züge, die „Angst vor Kontrollverlust“, die Furcht vor vermeintlichen Bedrohungen und „vor Beschämung, die die Niederlagen für ihn unerträglich machten“. Darauf hatte er übermäßig aggressiv, bis hin zur Vernichtung der ‚Bedroher‘ reagiert. Hitlers „emotionale Unterentwicklung und seine Unfähigkeit, sich an andere Menschen zu binden“ sowie seinen „Mangel an Empathie und Privatheit“ die er mit der „Konstruktion eines öffentlichen Selbst“ zu kompensieren versuchte, verbunden „mit hochfliegenden Plänen und hybriden Phantasien“, waren einer Konfrontation mit der Realität abträglich. Dieses mühsam erschaffene „öffentliche Selbst“ des Autodidakten mit geringer Bildung, hat dennoch sehr erfolgreich und sehr geschickt die Mechanismen, Strategie und Wirkung der Propaganda zu einzusetzen vermocht. Darüber hinaus gelang es ihm, eine durch die politischen Um- und Zustände in der Nachkriegszeit begünstigte Machtfülle zu erlangen. Woher der frühere „Niemand“ und schwache Schüler Hitler die Fähigkeit hatte, sich später je nach Bedarf als Opfer, wie nach dem gescheiterten Putsch von 1923, oder zunehmend als ein Revolutionär, eine geborener „visionärer Führer“ der neuen nationalsozialistischen Bewegung und gar einer ganzen Nation darzustellen, wird aber letztlich nicht geklärt.
Info:
Peter Longerich, HITLER, Biographie, Siedler
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Quelle
Review of Hitler, by Elvira Grözinger, August 19, 2016
Scholar for Peace in the Middle East (SMPE)