Nur Raus hier! 18 GESCHICHTEN VON DER FLUCHT AUS DER DDR - 18 GESCHICHTEN GEGEN DAS VERGESSEN aus dem Ankerherz Verlag, Teil 1/2

 Helmut Marrat

 

Weltexpresso (Hamburg) – 2014 jährte sich zum 25. Mal der Mauerfall vom 9. November 1989 – und damit der Anfang vom Ende des Sowjet-Kommunismus. Am 3. Oktober 2015 wird sich zum 25. Mal der Akt der Wiedervereinigung von 1990 jähren. - 25 Jahre, ein Vierteljahrhundert, und doch unvergessen. Oder doch schon vergessen? - Das im Ankerherz-Verlag erschienene Buch betont, dass dies auch eine Unternehumg gegen das Vergessen sei ...

 

Und das ist wichtig: Man soll nicht der DDR nachtrauern, man soll nicht den Kommunismus verherrlichen, dessen Wirklichkeit durch unendliches Leid gekennzeichnet war – weltweit.

 

Natürlich war es möglich, in diesem Land zu leben, wenn man über alle Mängel und Ungerechtigkeiten und vor allem über die Einschränkung der persönlichen Freiheit hinwegsah. Man konnte sich arrangieren. Das Leben dort erdulden. Die meisten haben das so gehalten. Angenehm hat nur eine begrenzte Führungsriege gelebt: Gedeckt von den russischen Panzern.

 

Dem Massaker auf dem "Platz des himmlischen Friedens" in Peking im Juni 1989, als die von der Jugend angestrebten Reform-Ideen mit Waffengewalt niedergeknüppelt wurden, applaudierte folglich das schwindende DDR-Regime von Erich Honecker (1912 - 1994). Als sich jedoch abzuzeichnen begann, daß die neue sowjetische Regierung unter Michail Gorbatschow (*1931) gegen die Reformbestrebungen innerhalb der DDR keine Panzer einsetzen würde - wie noch am 17. Juni 1953, wie noch 1956 in Ungarn, wie 1968 in Prag und Preßburg -, war ebenso klar, dass die Tage der DDR gezählt sein würden.

 

1989 - 1990: Es ist immer ein doppeltes Jubiläum, das gefeiert werden kann. - Das Buch "Nur raus hier!" aus dem Ankerherz Verlag bei Hamburg widmet sich all den Menschen, die es dennoch unerträglich fanden, sich zu arrangieren und wegzusehen. Vorgestellt werden 18 Menschen, die den Mut hatten, aus der bedrückenden Enge eines unfreien, nicht selbstbestimmten Lebens auszubrechen und den Schritt in ein gänzlich neues Leben zu wagen. Das sind besondere Menschen, besonders an Mut, an Gerechtigkeitsgefühl, an Freiheitsliebe. Kompromißlose Menschen. Bewunderswürdige Menschen allemal. 18 von ihnen, wie gesagt, werden vorgestellt – und nur den wenigsten von ihnen gelang die Flucht auf Anhieb.

 

Wir müssen daran erinnern: Mehrere hundert Menschen wurden direkt an der Mauer und den Grenzanlagen und -verhauen der DDR zum freien Westen gnadenlos erschossen oder starben im Zusammenhang mit den Grenzkontrollen. Der Name "Todesstreifen" nicht nur für die innerdeutsche Grenze kam nicht von ungefähr. Die "Chronik der Mauer" gibt darüber detailliert Auskunft.

 

Eine gescheiterte Flucht kann also beides bedeuten: Die Freiheitssuchenden wurden während des Fluchtversuches umgebracht, ermordet - oder festgenommen und inhaftiert. Selbstverständlich gehören zu den 18 in diesem Buch Geflohenen nur Personen dieser letzteren Kategorie. Schwer genug.

 

Darunter befindet sich Günter Wetzel (*1955), der wohl die spektakulärste Flucht aus der DDR bewerkstelligt hat: Zusammen mit seinem Freund Strelzyk und beide mit ihren Familien durch einen Heißluftballon von Thüringen nach Bayern im September 1979, die bald danach sogar in Hollywood zu einem Spielfilm weiterverarbeitet wurde. Oder der Ski-Springer und DDR-Olympia-Sportler Claus Tuchscherer (*1955), der es nicht länger ertragen konnte, von der SED-Führung einerseits gnadenlos bevorzugt, andererseits ebenso gnadenlos für die DDR instrumentalisiert zu werden (inklusive Doping) – und den Aufenthalt in Insbruck 1976 dazu nutzt, nicht mehr in die DDR zurückzukehren. Oder der Tierfilmer Andreas Kieling (*1959), der, bereits mit knapp 17 Jahren, durch die reißende Donau zwischen der Tschechoslowakei und Österreich in die Freiheit schwimmt. Oder der Fotograf Jörg Hejkal (*1961), der ebenso wie der Fußballfan des DDR-'Widerstands-Vereins' Union-Berlin Thomas Tröbner (*1958) von seinem Vater an die Stasi verraten wurde, und schließlich über die US-amerikanische Botschaft in Ost-Berlin fliehen konnte, 1984, - ein gelungener Versuch, der dann Schule machte, denn auf diese Weise konnte man ins westliche Ausland im wahrsten Sinne des Wortes übertreten, ohne Todesstreifen oder Mauer überwinden zu müssen ...

 

"Wenn ich an die DDR zurückdenke", sagt die Ärztin und Diabetis-Spezialistin Elke Austenat (*1945), "(...) fällt mir zuerst ein, dass der größte Frevel und Verrat dieses Staates DDR der Missbrauch an den Idealen der Menschen war. Die Ideale von Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde für alle wurden nur propagiert, aber nicht gelebt. Sie wurden missbraucht." (S. 107).

 

Die Gründe, diesen trüben und grauen Unrechtsstaat, diesen durch die Sowjet-Armee 1945 besetzten und kontrollierten Teil Deutschlands verlassen zu wollen, sind immer die gleichen: Das Gefühl, eingesperrt zu sein, seine Träume, seine Ideen, mithin seine menschliche Sendung nicht leben zu können, stattdessen aber Bonzenwillkür und Ungerechtigkeit ausgesetzt zu sein.

 

Klaus Kern (*1938) war bereits im August 1961 aufgefallen, daß die DDR ungewöhnlich viele Truppen nach Berlin zog. Er brachte daraufhin seine junge Frau und seinen gerade 11 Monate alten Sohn in den Westteil der Stadt zu seinen Verwandten. Am 12.8., einem Sonnabend, wurde es spät, also schlief er am Sonntag aus. Als er auf die Straße trat, war die ungewöhnliche Stimmung in Berlin zu spüren. Bald erfuhr er: "Die Grenze ist dicht!" - Kern konnte das noch nicht glauben, doch es gelang ihm nicht, zu seiner Familie in die westlichen Sektoren zu gelangen. Auch sein Fluchtversuch zusammen mit seinem Chef aus der Baufirma, einen Tag später mit einem gefälschten Paß mißlang. Daraufhin saß Kern ein Jahr in Haft. Die DDR hatte hier einen Musterprozeß veranstaltet, Beispiele statuiert. Das DDR-Fernsehen übertrug den Prozeß-Verlauf. Und insofern unterschied sich das nicht wesentlich von den Prozessen vor dem Volksgerichtshof nach dem Attentat auf Hitler (1889 – 1945) nach dem 20.7.1944 unter Freisler (1893 – 1945), allerdings mit dem Unterschied, daß 1944 die Filmaufnahmen eingestellt wurden, weil die würdevolle Verteidigung der Angeklagten und später zum Tode Verurteilten zu viel Zustimmung in der Bevölkerung hervorrief.

 

Kern war ein sehr guter Schwimmer gewesen und ein erstklassiger und sehr gewissenhafter Handwerker. Als er einmal mit anderen Maurern während seiner Haft einen Raum instandsetzen sollte, äußerte er sein Mißfallen an der Arbeitsweise seiner 'Kollegen', indem er betonte: "Mensch Kinder, wie sieht das denn aus? Im Westen kriegt ihr für so was direkt die Papiere!" - Damit eckte er an; natürlich! Man warf ihm "Verherrlichung des Westens" vor.

 

So etwas war kein Einzelfall. Weder mit Schlendrian noch mit brutalen Gewaltmaßnahmen gegen seine einfallsreicheren und tüchtigeren Bewohner kann ein Staat allzu lange existieren. Fortsetzung folgt.

 

 

Info:

NUR RAUS HIER1!, Hrsg. und Fotografien von Andree Kaiser, geschrieben von Bickmeyer, Brenner & Kruecken, Ankerherz Verlag 2015