Kurt Nelhiebels Berichte vom ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess „Asche auf vereisten Wegen“ aus dem Verlag PapyRossa

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wer über Auschwitz schreibt oder spricht, läuft stets Gefahr, in bloße Phraseologie zu verfallen. Ist nicht schon alles bekannt? Ist nicht schon alles Bekannte bereits tausendfach gesagt – und besser, als man selber es je zu sagen vermöchte? Gelingt einem nichts weiter als zwar gut Gemeintes, aber letztlich Nichtssagendes?

 

Wie aber war es früher, vor 50 Jahren, zur Zeit der Frankfurter Auschwitz-Prozesse? War man damals „unbefangener“? Verfügte man damals, als im Prinzip das meiste auch schon bekannt, aber öffentlich noch kaum thematisiert worden war, über bessere Voraussetzungen, das Schreckliche zu benennen, ohne daß einem „die abstrakten Worte, deren sich die Zunge naturgemäß bedienen muß“ (Hugo von Hofmannsthal), um ein Urteil zu sprechen, im Munde zerfielen wie modrige Pilze?

 

Damals brachte der damalige hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer diejenigen zum Reden, die lieber geschwiegen hätten, und denen es lieber gewesen wäre, wenn man ihnen nicht zugehört hätte, und er gab denjenigen die Möglichkeit zum Reden, die von den Erstgenannten am liebsten vor 1945 für immer zum Schweigen gebracht worden wären, und denen man nun vielfach auch nur widerwillig (wenn überhaupt!) zuzuhören, geschweige denn zu glauben bereit war.

 

Zu denjenigen, die von den Frankfurter Auschwitz-Prozessen beredtes Zeugnis ablegten, zählte der junge Kurt Nelhiebel, dessen unter dem Pseudonym Conrad Taler für das offizielle Organ der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien geschriebene Artikel hier bereits in zweiter Auflage in Buchform vorgelegt werden.

 

Der Verfasser entschuldigt sich im Vorwort, kein neutraler Beobachter gewesen zu sein – würfe ihm jemand aufgrund seiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vor, ehre ihn dies; als einer, der politische Verfolgung am eigenen Leibe erfahren habe, sei es ihm nicht möglich gewesen, auf Distanz zu gehen.

 

Uns erscheint die Notwendigkeit für solch eine Entschuldigung nicht gegeben. Wenn Nelhiebel hier an irgendeiner Stelle die Pflicht zur journalistischen Objektivität verletzt haben und mit ihm die Emotion „durchgegangen“ sein sollte, so haben wir davon nichts bemerkt.

 

Vielleicht, weil wir heute so „abgebrüht“ sind? Vielleicht, weil das Ungeheuerliche, das man damals verhandelte, und die zum Teil ungeheuerlichen Umstände der damaligen Verhandlungen, als die Beklagten und ihre Anwälte die Überlebenden zu diffamieren suchten, immer noch „schlimm genug“ sind?

 

Die Diskrepanz, die der junge Berichterstatter am Abend eines jeden Prozeßtages zwischen den Vorgängen im Gerichtssaal und dem alltäglichen Treiben „draußen“ empfinden mußte, dürfte sich auch heute noch jedem denkenden Menschen unmittelbar erschließen – das Grauen, das eben noch auf ihn eingestürzt war, hätte die Welt, und sei es nur für einen Augenblick, stillstehen lassen müssen, aber alles ging und geht weiter seinen gewohnten Gang; geschäftig wie immer eilen die Menschen hin und her, mit unbeteiligten Gesichtern gleich Masken aus einer anderen Welt.

 

Neben Nelhiebels Prozeßberichten finden sich in dem Buch auch eine komprimierte Würdigung des Lebens und Wirkens Fritz Bauers durch Irmtrud Wojak, die Verfasserin der maßgeblichen Fritz-Bauer-Biographie von 2009, sowie eine Darstellung der Fritz-Bauer-Rezeption seit seinem Tod im Jahre 1968 und eine Erörterung der „Affäre Bütefisch“ – letztere beide wieder von Nelhiebel selbst.

 

Auch Fritz Bauer höchstpersönlich kommt zu Wort – mit Auszügen aus seinem am 5. Februar 1964 in der Frankfurter Universität gehalten Vortrag „Nach den Wurzeln des Bösen fragen“.

 

Den Band beschließen Überlegungen Nelhiebels zum Thema „50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozeß“. Auch wenn wir ihm angesichts einiger seiner Wertungen von Äußerungen verschiedener Figuren der Zeitgeschichte (Heinrich Lübke, Franz-Josef Strauß, Helmut Kohl, Ernst Nolte, Martin Walser, Heinrich August Winkler, Joachim Gauck, Joschka Fischer) sowie seiner Bewertung einiger politischer Vorgänge unsere Zustimmung verwehren müssen, bleiben dadurch jedoch die zahlreichen Verdienste des vorliegenden Buches letztlich unberührt.

 

Im Rahmen der Gedenkfeier für Fritz Bauer brachte Robert W. Kempner die Bedeutung des verstorbenen hessischen Generalstaatsanwalts auf den Punkt: „Er war, wie auch schon angedeutet ist, der größte lebende Zeuge, nachdem Konrad Adenauer gestorben ist, für ein besseres Deutschland. Er war der größte Botschafter, den die Bundesrepublik hatte. Er wußte wirklich, im Gegensatz zu vielen Dummköpfen, womit man Deutschland helfen kann, und er hat ihm geholfen!“

 

Zu Lebzeiten sah sich Fritz Bauer vor allem von konservativer Seite, aber auch innerhalb der SPD Anfeindungen unterschiedlichster Art ausgesetzt, nach seinem Tod war er lange Zeit – zu Unrecht! – vergessen. Mit der Biographie Irmtrud Wojaks und dem Dokumentarfilm Ilona Zioks („Tod auf Raten“, 2010) begann eine Gegenbewegung, die nun wiederum, da die Gestalt Fritz Bauers auch vielfach im Bereich des Spielfilms aufgegriffen zu werden beginnt, in ihr Gegenteil umzukippen droht: Anstatt die Auseinandersetzung mit seinem geistigen Erbe zu fördern, scheint man von Seiten des Instituts, das seinen Namen trägt, eher darum bemüht, Fritz Bauer als von Komplexen und womöglich auch Rachegelüsten getriebenen Zwangsneurotiker und Homosexuellen zu präsentieren und die „Entmythologisierung“ der Auschwitz-Prozesse und ihres Initiators zu betreiben – wo aber kein „Mythos“ vorhanden ist, im Sinne einer verklärenden und beschönigenden Darstellung und Überlieferung von moralisch Anfechtbarem, da ist auch der Begriff der „Entmythologisierung“ nichts als Jargon und letzten Endes Ausweis von wissenschaftlichem Nihilismus.

 

Dieser Demontage Fritz Bauers gilt es entschieden entgegen zu treten – mehr als alles andere gilt es aber auch weiterhin, im Sinne Fritz Bauers zu handeln und die Erinnerung zu bewahren, denn: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden!“

 

Dies zu verhindern und den „Kampf für des Menschen Rechte“ unbeirrbar fortzusetzen, „ist des Schweißes aller Edlen wert“ – aller Edlen, möchten wir hinzufügen, welcher politischen Couleur auch immer, wofern sie nur bereit sind, gemeinsam für Humanität und Toleranz zu streiten.

 

Fritz Bauer, der die Täter von Auschwitz Anfang der 1960er Jahre vor Gericht stellte und infolge des Prozesses gegen Otto Ernst Remer Anfang der 1950er Jahre entscheidend zur Rehabilitierung der Attentäter des 20. Juli beitrug, die „aus heißer Vaterlandsliebe und selbstlosem, bis zur bedenkenlosen Selbstaufopferung gehendem Verantwortungsbewußtsein gegenüber ihrem Volk“ das nationalsozialistische Unrechtsregime zu stürzen bestrebt waren, könnte somit gerade in unserer Gegenwart zu einer demokratischen Integrationsfigur gleichermaßen für Linke wie für Rechte werden, nach deren Vorbild sich eine bessere Zukunft gestalten lassen möge.

 

 

Info:

 

Conrad Taler: Asche auf vereisten Wegen. Berichte vom Auschwitz-Prozess.

Mit einem Beitrag von Irmtrud Wojak.

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

PapyRossa Verlag, Köln 2015

Neue kleine Bibliothek Band 87

171 Seiten, 13.90 EUR

ISBN: 978-3-89438-263-6