UNSCHULD von Jonathan Franzen aus dem Verlag Rowohlt/ Hörverlag erzählt von Sex und Crime, Wahrheit und Lüge, Männern und Frauen, aber wie!, Teil 1/3
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Gleich nach den ersten Seiten durchströmt mich ein derartiges Glücksgefühl, wie es nur passiert, wenn man in schwarzen Buchstaben das pralle, schöne, schreckliche Leben anderer mitlebt, was sich mit Dankbarkeit paart, daß Jonathan Franzen so erzählen kann, daß man gebannt nichts anderes mehr wahrnimmt als die sich vor unseren Augen entwickelnde Geschichte über rund 60 Jahren, von denen Purity, genannt Pip Anfang und Ende des Romans markiert und damit die Hoffnung, daß sich Menschen ändern können.
Die Geschichte ist so komplex und die Art und Weise der Erzählung so virtuos, daß man glaubt, ein Ko-Buch schreiben zu müssen, um Inhalt und Form dieses Familienromans und mehr weiterzugeben, zu interpretieren und zu werten, schon deshalb, weil einem nicht nur beim Lesen die Figuren beschäftigen, sondern man mit ihnen in den Zwischenzeiten lebt, die Fortsetzung der Handlung schon antizipiert, sich täuscht, dann richtig liegt – und auch, wenn nach 830 Seiten der Roman aufhört, beschäftigen einen die Personen und ihr Schicksal weiter.
Es hat sich herumgesprochen, daß UNSCHULD im Original Reinheit heißt, also Purity, was auch der Name der Hauptperson ist, die Pip abgekürzt wird. Schon hier zeigt sich das Raffinement des Erzählers, denn mit der Reinheit/Unschuld spricht Franzen zwei Dinge an: Rein ist eine moralische Kategorie, keine schlechte, aber sie ist auch eine hygienische Anforderung, die leicht zum Zwang wie dem Putzzwang wird. Von daher ist der Reinheit eine Doppeldeutigkeit eigen, die UNSCHULD nicht mehr hat, es sei denn, man meint sie ironisch, bzw. im Sinne, wie Ödipus zu seinen Verderbnissen kommt, unschuldig eben.
Ob UNSCHULD oder REINHEIT, beide Begriffe verweisen auf das ERHABENE, das seit Kant die Philosophen und Künstler beschäftigt, womit das Heilige und Schönheit mitgeschrieben sind. Also hehre Ansprüche. Aber Pip, das ist so eindeutig Pop und Verniedlichung, so daß schon in dieser jungen Frau der Dualismus als Prinzipien der Welt, als drängende Mächte sowie Seh- und Erkenntnisweisen der Welt deutlich werden. Es geht um Gegenwart + Vergangenheit, Licht+Schatten, Digital +Print, Hell+Dunkel, Verschlüsseln und Entschlüsseln, Unschuld+Schuld, Paranoia+Naivität, Verschleiern+Entlarven, Vertrauen+Verrat - und um Männer+Frauen. Also um alles.
Die Personen und ihre Verbandelung
Pip ist die Tochter von Anabel, der Erbin eines Milliardenvermögens, das diese nicht haben will, weil sie den Vater ob des Geldes verachtet, das dieser durch Lebensmittel- und Fleischindustrie ausbeuterisch gegenüber Mensch und Tier erworben hat (man muß einfach an Monsanto denken) , weshalb sie untergetaucht ist, anonym mit neuem Namen lebt, wovon Pip nichts weiß, genauso wenig wie, wer ihr Vater ist, was auch dem Leser lange verborgen bleibt, der immer wieder Personen ausgiebig beschrieben erhält, deren Zusammenhang mit den anderen sich ihm erst später entschlüsselt. Alles raffiniert gemacht und es stimmt am Schluß! Wie Franzen nun diese Geschichte komponiert, hat es in sich, denn Dichotomisches zeichnet alle Personen und Situationen aus. Pip, mit riesigen Studienschulden und ohne Lebensorientierung, will endlich wissen, wer ihr Vater ist und wird durch Annagret, eine Deutsche, die sie in Oakland kennenlernt, als sie dort einen Bürojob annimmt, um von den Schulden herunterzukommen, auf Andreas Wolf aufmerksam gemacht, der in den Bergen von Bolivien das „Sunlight Project“ durchzieht, ein Whistleblower erster Güte, der hier mit seinem Clan Asyl genießt, verfolgt von den USA und anderen Staaten. Annagret verhilft ihr zu einem Praktikum beim Weltenthüller.
Nachtigall, ich hör Dir trapsen, denkt man, aber Franzen baut die Assoziationen des Lesers gleich mit ein und spricht von Julian Assange und von Edward Snowden in Moskau, so daß wir nicht weiter einen heutigen Whistleblowerverschnitt erwarten müssen, sondern Andreas Wolf sich zu einer von innen her beschriebenen, tragenden Säule des Romans auswächst. Und natürlich heißt er nicht umsonst Wolf. Der berühmte DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf ist sein Onkel. Lange schließt sich der Leser Pips Vermutung an, dieser Andreas Wolf könne ihr Vater sein, schon durch dessen exzessive Lebensaufgabe, der Entlarvung und Enttarnung von den Geheimnissen der Welt, weil es einfach wahrscheinlich scheint, daß die Mutter den in den USA als Geheimnisverräter gesuchten Mann verschweigt. Fortsetzung folgt.
Info:
Jonathan Franzen, Unschuld, Rowohlt Verlag 2015, übersetzt von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, Hardcover 26,95 € , E-Book 23,99 €
Jonathan Franzen, Unschuld, Ungekürzte Lesung
Gelesen von Sascha Rotermund, Walter Kreye
Originalverlag: Rowohlt Verlag
Übersetzt von Bettina Abarbanell, Eike Schönfeld
4 MP3-CDs, Laufzeit: 1557 Minuten
ISBN: 978-3-8445-1962-4
€ 26,99 [D] * | € 30,30 [A] * | CHF 37,90 * (* empf. VK-Preis)