UNSCHULD von Jonathan Franzen aus dem Verlag Rowohlt/ Hörverlag erzählt von Sex und Crime, Wahrheit und Lüge, Männern und Frauen, aber wie!, Teil 2/3

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Dabei geht es jetzt von Bolivien über die USA schnurstracks nach Deutschland, in die DDR - und zwar zu Zeiten der DDR. Andreas ist der Sohn eines SED- und Politkaders, hochangesehen in der Nomenklatura der DDR. Im Kapitel DIE REPUBLIK DES SCHLECHTEN GESCHMACKS, in der wie in einem Exkurs die Geschichte des Andreas Wolf erzählt wird, rechnet Franzen mit der DDR ab.

 

Das geschieht so gnadenlos und vernichtend, daß die spätere Sicht der DDR auf Seite 613, als Tom mit seiner sterbenden Mutter zu Zeiten des Mauerfalls in die Heimat Jena kommt, den politisch-moralischen Widerpart bringt, eben in der typisch Franzschen Dichotomie, er nun liebevoll die die Wärme zwischen den Menschen in der damaligen DDR beschriebt, die als Menschen allesamt „bescheiden, unpünktlich, spontan und großzügig“ waren.

 

Und dann schlägt der Autor, dessen literarische Vorliebe süchtig machende Dialogstrukturen sind, in denen die Paare einander ausziehen und noch nackt zwischen Töten und Lieben variieren, eine Volte und gibt als Icherzähler Tom Aberant den Ton an: „Meine Affäre mit Anabel hatte begonnen, sobald unsere Scheidung rechtskräftig geworden war.“ beginnt es süffisant und erhellend und „Szenen einer Ehe“ oder „Gott des Gemetzels“ sind nichts dagegen, wenn hier zwei aneinander so viel Gefallen finden, daß sie sich zerfleischen müssen. Ein tolles Stück Literatur im Roman (Seiten 465-658), womit Franzen auch elegant die Spannung hält, weil dramaturgisch dieser Exkurs entscheidend für den Fortgang ist, aber durch seine andere perspektivische Erzählform belebt, alles frisch macht. Denkt man sich als Motiv für den Autor. Und erst am Schluß verstehen wir, daß dieses Schriftstück in der auktorialen Erzählperspektive geschrieben werden mußte, weil es besonders privat, besonders intim niemals von anderen gelesen werden sollte – was natürlich in UNSCHULD, wo es ständig um das Entschlüsseln des Verschlüsselten geht, passieren muß und dramatische Folgen hat.

 

Hier wäre Raum, auch inhaltlicher über Anabel zu sprechen, die mittellose Milliardenerbin, die aus rigoroser Abneigung gegen die Welt des Geldes dieses verschmäht, obwohl sie weiß, daß ihre Tochter Pip 130 000 Dollar Studienschulden hat. Diese Frau hat etwas derart Absolutes, daß man hin und her gerissen ist.

 

Gerissen und geschüttelt zwischen dem Einverständnis ihrer sauberen moralisch integren Art und angewidert über derartige Fehleinschätzungen eines letztlich im Freudschen Sinne analen Charakters, der Sauberkeit mit Putzzwang verwechselt, wobei es bei ihr ums Riechen geht. Sie riecht dauernd etwas Unangenehmes. Franzen läßt dieser Figur ihr Changieren zwischen den Polen. Auf jeden Fall bindet Anabel ihre Tochter Pip nicht weniger dogmatisch an sich, als es in der DDR Katya Wolf mit ihrem Sohn Andreas getan hatte. Irgendwie reziprok ödipal.

 

Leider haben wir die tragenden Handlungsträger von UNSCHULD, die miteinander verschränkten und verbandelten Personen, immer noch nicht zusammen. Denn auch Celia spielt eine wichtige Rolle. Sie lebt in Jena zu DDR-Zeiten, wird von ihrer Mutter schikaniert und 'macht rüber' nach Westberlin, diesem Sündenbabel, wo sie gleich am ersten Abend einen grundsoliden Amerikaner kennenlernt, der sie vor der Anmache anderer Männer rettet, heiratet und in die USA mitnimmt. Beide sind die Eltern von Tom Aberant. Wir sind übrigens über Raum und Zeit nicht chronologisch im Roman verankert. Und genau das macht den Reiz aus. Man muß manchmal schon einige Seiten ins Blaue lesen, bevor man weiß, um wen es geht, wo man ist und zu welcher Zeit. Aber dann ist man glücklich.

 

Über Annagret aus Ostberlin/Leipzig wurde viel zu wenig gesagt, ihre Verknüpfung mit Andreas Wolf ist die schicksalhafteste und sie versteht sich gut mit der Mutter des Andreas, einer Anglistikprofessorin in der DDR, einer gewissermaßen hybriden Frauenfigur, die Franzen hier geschaffen hat, dem die Frauen und Frauenbeschreibungen wohl generell mehr liegen, will heißen, denen er mehr Sympathie und Verständnis entgegenbringt. Fortsetzung folgt

 

 

Info:

 

Jonathan Franzen, Unschuld, Rowohlt Verlag 2015, übersetzt von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, Hardcover 26,95 € , E-Book 23,99 €

 

 

Jonathan Franzen, Unschuld, Ungekürzte Lesung

Gelesen von Sascha Rotermund, Walter Kreye

Originalverlag: Rowohlt Verlag

Übersetzt von Bettina Abarbanell, Eike Schönfeld

4 MP3-CDs, Laufzeit: 1557 Minuten

ISBN: 978-3-8445-1962-4

26,99 [D] * | € 30,30 [A] * | CHF 37,90 * (* empf. VK-Preis)