UNSCHULD von Jonathan Franzen aus dem Verlag Rowohlt/ Hörverlag erzählt von Sex und Crime, Wahrheit und Lüge, Männern und Frauen, aber wie!, Teil 3/3
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Hier brechen wir die inhaltliche Wiedergabe ab, denn den Krimielementen im Roman wollen wir nicht vorgreifen, das SEX und CRIME in der Überschrift stimmt, schließlich geht es um mehr als einen Mord und zum Sex kommen wir später. Erst zum Gehalt des Romans, hier eine kleine Analyse.
Horch und Guck, von der DDR ins Internet
Beim ersten Mal zuckt man noch zusammen, beim zweiten Mal denkt man schon selber, aha, früher die DDR als Überwachungsstaat, jetzt die Organe der USA als permanente Stasi, als Lauscher und Horcher, denen der deutsche Ritter Andreas Wolf den Kampf ansagt und nun wiederum diese überwacht und kontrolliert und deren Vergehen an die Öffentlichkeit bringt. Wie er das tut und mit Charisma seine Anhängerinnen beschläft und zur enthusiastischen Mitarbeit beim Enthüllungshacken bringt, allerhand. Und schon hier beschleicht einen die Ahnung, daß die ehemalige Trennung von Privat und Öffentlichkeit, eine bürgerliche Errungenschaft, die offiziell bis heute besteht, im Internet so aufgehoben ist, wie es die Stasi in der DDR gerne gehabt hätte, aber nie erreichte.
Franzen beschreibt hier etwas, das wir doch alle fassungslos registrieren und als Umkehrung der Verhältnisse von gestern wahrnehmen. Früher wollte man das Private bewahren – vor anderen, vor dem Staat auch, heute wird es per Facebook und Twitter in die Welt hinausposaunt und diejenigen, die das nicht tun, werden von staatlichen Organisationen der USA in der ganzen Welt abgehört, überwacht und kriminalisiert. Dabei geht es den Horchern und Guckern selten um private Nutzung, die man von einer Überwachung hat, wie der, daß man heimlich die Telefonliste des Liebsten auf dem Handy liest, um herauszubekommen, ob er etwa noch eine weitere Liebste hat. Nein. Es sind die Menschen hier nicht zum eigenen Nutzen die HORCHER UND GUCKER, sie sind jeweils für höhere Aufgaben instrumentalisiert, ach nein, instrumentalisieren sich mit Lust selbst. Da kann man ja nicht mehr von Manipulation reden, wenn das so offen daherkommt, oder höchstens in dem Sinne, wie man sich selber manipuliert, ohne es zu merken.
Deutschland, deutsche Frauen und deutsche Männer
Das war mir die größte Überraschung, daß Franzen einen Roman über Deutsche schreibt. Deutsche, wer sind die? Was ist eine deutsche Frau, ein deutscher Mann? Und welche Eigenschaften zeichnen sie aus, worin unterscheiden sie sich von den anderen Europäern und erst den US-Amerikanern. Sie tun es. In UNSCHULD könnte man Seiten füllen, mit Angaben, was für Franzen deutsch, besonders typisch deutsch ist. Das ist mal gut, mal schlecht, mal eben dem analen Charakter entlehnt, mal großzügig und weltbeglückend. Mehr gut übrigens als schlecht, zusammengenommen. Nur, was sind Volkscharaktere? Zumal Franzen das 'herzzerreißende“ Deutsche in der DDR ansiedelt, noch mehr, die ganze Republik ist herzzerreißend deutsch. Doch, da ist was dran. Lesen Sie selbst.
Und dann noch etwas, was auffällt. Soviel wie hier gerammelt, masturbiert, sexphantasiert wird, Pornos im Internet geguckt, anal verkehrt wird, als Wunschdenken und als Bestrafung, also, das geht auf keine Kuhhaut. Vielleicht hätten die beiden Übersetzer doch einmal eine andere Wortwohl wählen sollen, als das ständige 'Kommen', für den zumindest formal geglückten Koitus oder die entsprechende Masturbation. Wir wissen nicht, wie es sich im Amerikanischen anhört, ob dort die Wortwahl auch so buchhalterisch daherkommt. Ein bißchen Ekstase hätte es hier schon sein können, wenn Franzen die fast immer juvenilen Hormonüberschüsse so überdeutlich und anhaltend beschreibt.
Was noch auffällt
Die Figuren, die hier nur angerissen und noch nicht einmal alle erwähnt sind, sieht man leibhaftig vor Augen, fein gezeichnet mit einer leichten Ironie, die schwer zu beschreiben ist, weil sie nichts Sarkastisches hat, erst recht nichts Zynisches. Es ist eher die Distanz des Olymps, weil von oben her gesehen, allen irdischen Anstrengungen die Leichtigkeit der Erkenntnis gegenübersteht: es könnte alles auch anders sein. Das hebt das Schwere auf, denn das ganze Buch besteht aus Existentiellem, wo es um das Morden geht, sowohl in der wirklichen Welt, wie auch in der der psychischen Schmerzen, wie Menschen absichtlich und mit der Begründung, es geschehe aus Liebe, sich den kleinen Tod geben.
Diese Ironie, die Scherz, Satire und tiefer Bedeutung einschließt, umfaßt nicht nur den Stil, sondern die Anlage der Personen: Der, der andere entlarvt, hat selbst das schlimmste Geheimnis. Wer tötet, tötet sich auch selbst. Pip, die Unschuld, verrät alle. Und sie weiß das auch im Moment des Verrats und kann nicht anders. Tom, der tumbe Tor, hat seine Liebe verraten und wird nie wieder so lieben können. Clelia ist als dumme Deutsche dem amerikanischen Traum verfallen, rechtsradikal geworden und erlebt zurück in Jena zu Zeiten des Mauerfalls die Wärme ihrer Verwandten, die sie in den USA Jahrzehnte vermißte. Annagret ist diejenige, die wir am wenigsten kennenlernen, nur als Funktion des Andreas, wofür es gute Gründe gibt. Und von Lelia, die mit Tom lebt, und zu Hause einen Mann im Rollstuhl hat, haben wir noch gar nicht gesprochen. Wie sagten wir: Lesen!
P.S.: Spätestens jetzt ein Wort zum Lesen und Hören. Wir taten beides, waren aber beidemale so auf den Inhalt konzentriert, daß wir jetzt nicht sagen können, wie unglaublich gut die Sprecher Sascha Rotermund und Walter Kreye gewesen wären. Wir waren so in die Geschichte vertieft, beim Selberlesen und dem Hören, daß alles herum sich in Nichts auflöste. Das heißt aber im Umkehrschluß, die beiden müssen gut gelesen haben, denn sie haben ihre Stimmen als Instrument genutzt, um genaues, nicht ablenkendes Hören möglich zu machen. Danke.
Foto: Jonathan Franzen
Info:
Jonathan Franzen, Unschuld, Rowohlt Verlag 2015, übersetzt von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, Hardcover 26,95 € , E-Book 23,99 €
Jonathan Franzen, Unschuld, Ungekürzte Lesung
Gelesen von Sascha Rotermund, Walter Kreye
Originalverlag: Rowohlt Verlag
Übersetzt von Bettina Abarbanell, Eike Schönfeld
4 MP3-CDs, Laufzeit: 1557 Minuten
ISBN: 978-3-8445-1962-4
€ 26,99 [D] * | € 30,30 [A] * | CHF 37,90 * (* empf. VK-Preis)