Ein „Lesebuch“ des AutorInnenkollektivs Loukanikos, bei: edition assemblage

 

Bruno Alberti

 

Darmstadt (Weltexpresso) „History is unwritten“! - Die Geschichte ist nicht aufgeschrieben! Sie ist noch nicht richtig aufgeschrieben worden. Vieles müsste zum ersten Mal aufgeschrieben, anderes müsste umgeschrieben, das meiste wohl noch mal völlig neu, ganz anders aufgeschrieben werden.

 

Diese auf den ersten Blick verblüffende Idee hatte eine Gruppe junger HistorikerInnen, Politik-und KulturwissenschaftlerInnen, die sich nach einem Hund, der regelmäßig bei den Athener Straßenkämpfen gegen Sparmaßnahmen dabei war, Loukanikos nennt.

 

Loukanikos organisierte in Berlin im Dezember 2013 eine Tagung zum Thema „History is unwritten“ und veröffentlichte 2015 in der „edition assamblege“ ein um weitere Beiträge ergänztes „Lesebuch“ als Tagungsband. Dieser Band gibt einen facettenreichen Überblick über eine sich um emanzipatorische Geschichtsaufarbeitung bemühende Geschichts-und Politikwissenschaft sowie linke geschichtspolitische Initiativen.

 

Ich habe versucht, aus der Vielzahl der Beiträge im Band das Selbstverständnis „linker Geschichtspolitik und kritischer Wissenschaft“ (Untertitel von „HIU“) zu erschließen. In dem Beitrag von David Mayer („Gute Gründe und doppelte Böden. Zur Geschichte linker Geschichtsschreibung“) wird unterschieden zwischen einer politischen Rechten, für die das Soziale „eine schon immer bestehende und oder in ihrer Entwicklung zu Ende gekommener Ordnung“ aufweise, „deren Strukturen der Ungleichheit keine Veränderungen unterzogen werden sollen“. (S. 33)

 

Die Linke dagegen umfasse „Organisationen, politische Traditionen und Personen, die egalitaristische und sozialemanzipatorische Anliegen verfolgen“. (S. 31) Für die Linke zeige der Blick in die Vergangenheit „Elemente steten Wandels“, woraus der Anspruch künftiger Transformationen abgeleitet werde. Geschichte kann aus der Sicht der Linken beeinflusst, Zukunft kann gestaltet werden. Für die Linke ist die Perspektive des Danach wesentlich, sie bejaht die Denkmöglichkeit einer Gesellschaft nach der uns bekannten gegenwärtigen. (Seite 34)

 

Die Analyse des Davor und des Jetzt ist Voraussetzung dafür, dieses Danach konkret vorstellbar zu machen. Zweimal wird in „HIU“ Marx zitiert, dem es darum geht, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. (Florian Grams, „Lehrstoff aber keine Legenden - Ein Beitrag zum notwendigen Geschichtsverständnis für emanzipatorische Praxis“, S. 342 und Cornelia Siebeck, „Ein postmodernes Gedächtnis für die bessere Zukunft? Nachdenken über Möglichkeiten emanzipatorischer Gedächtnispolitik“, S. 368)

 

Wie viele Menschen zählten und zählen in Vergangenheit und Gegenwart zu den Erniedrigten, Geknechteten? Wie viele fühlten und fühlen sich verlassen, wurden und werden verächtlich gemacht? Die gewaltige Zahl von Opfern in der Geschichte und der Gegenwart muss, das ist die moralische und politische Schlussfolgerung, zu einer elementaren Gerechtigkeitsforderung führen. Es bräuchte sozusagen ein menschenfreundliches Weltgedächtnis, um gegenwärtigen und zukünftigen Ungerechtigkeiten und Gewalttaten vorbeugen zu können. Das erforderte allerdings eine universell gültige Rechts- und Friedensordnung, von der wir weit entfernt sind. Erst eine solche Rechts- und Friedensordnung könnte ein globales humanes Zusammenleben ermöglichen.

 

In verschiedenen Beiträgen des Bandes wird allerdings zur Vorsicht hinsichtlich neuer linker Utopien gemahnt. Die Geschichte der Linken sei schließlich eine Geschichte der Niederlagen. (Ralf Hoffrogge, „Vorwärts und nicht vergessen? Warum die Linke große Erzählungen braucht und dabei auf die Erfahrungen der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht verzichten kann“, S. 118) Das Scheitern des Kommunismus müsse verstanden und daraus müssten Lehren gezogen werden. Verwiesen wird darauf, dass viele Kommunisten und Sozialisten überzeugt waren, die Wahrheit auf ihrer Seite zu haben, weswegen sie Kritik und Zweifel als Verrat an der jeweiligen Sache deuteten. (Bündnis „Rosa& Karl“, „Fragend blicken wir zurück. Fragend schreiten wir voran“, S. 349)

 

Die Linke müsse das Paradox begreifen, dass kommunistische wie sozialistische Phasen ebenso kommunistisch und sozialistisch waren, wie sie es überhaupt nicht waren. (Bündnis „Rosa & Karl“ a.a. O. S. 352, vgl. Bini Adamczak, „gestern morgen“, Münster 2007, S. 121) Geschichtsschreibung müsse akzeptieren, dass es keine unumstößlichen Wahrheiten gibt. (Cornelia Siebeck, a.a.O., S. 375) Es stünden immer nur Geltungsansprüche zur Disposition, und diese Geltungsansprüche seien in der Regel umstritten. (C. Siebeck, S. 363)

 

In diesem Zusammenhang führt Siebeck schlüssig aus, dass es keinen Standpunkt außerhalb des Spiels um Wahrheit und Deutungsmacht gebe. Eine Wahrheit, die nicht um eine alternative Wahrheit ergänzt werden könne, gebe es nicht. Das soll natürlich keine relativistische Standpunktlosigkeit zur Folge haben. „Bestritten wird die Möglichkeit von Letztbegründungen, nicht die Notwendigkeit partieller und immer nur vorläufiger Begründungsversuche.“ (C. Siebeck, S. 364) Fortschrittliche, kritisch denkende Menschen werden sich immer für bestimmte Wahrheiten einsetzen, die politisch aus guten Gründen für plausibel erachtet werden. (Siehe dazu die engagierte und teilweise scharfe Kritik an dem neuen Fritz Bauer-Film in „Weltexpresso“)

 

Das, was politisch notwendig und erforderlich ist, lässt sich, folgt man den Beiträgen in „HIU“, nach wie vor aus dem marxschen „categorischen Imperativ“ ableiten: Eine Welt, in der Menschen nicht erniedrigt, schon gar nicht geknechtet werden, in der sie keine vom solidarischen Handeln anderer verlassene Wesen sind und niemand verächtlich gemacht und behandelt wird.

 

Sehr überzeugend findet der Rezensent Oliver Marcharts Hinweis (Marschart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt a. M.) auf einen wirksamen Schutz vor linker „Gewissheitsgewissheit“. (C. Siebeck, S. 364) Erforderlich sei, ausgehend von einer fundamentalen „Ungewissheitsgewissheit“ die richtigen Konsequenzen bei den Auseinandersetzungen um eine bessere Zukunft zu ziehen. Verwiesen wird auf Lyotard, dass nach allen historischen Erfahrungen die Hoffnung auf einen gleichsam automatischen Fortschritt illusorisch sei. (S. Grams, S. 339) Ein heute als relativ gewiss scheinendes Geschichts- und Gesellschaftsbild werde dereinst von der Geschichte überholt und könne als Anachronismus enden. (C. Siebeck, S. 361) Einigkeit besteht in der Linken darin, dass die „bessere Zukunft“ sich von der Vergangenheit und der Gegenwart unterscheiden müsse.

 

Widersprochen wird den Erzählungen von der Alternativlosigkeit des Bestehenden. (C. Siebeck, S. 372) Laclau wird zitiert, für den Demokratie so lange bestehe, wie „die Möglichkeit unbegrenzten Hinterfragens“ bestehe. (Siebeck, S. 375) Laclau/Mouffe (vgl. Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal: Hegemony & Socialist Strategy) plädieren für eine auf Dauer gestellte Demokratisierungsbewegung mit einem grundsätzlichen Anspruch auf maximale Partizipation an den politischen Verhandlungen über die „richtige Ordnung“ des Sozialen. (Siebeck, S. 368)

 

Es müsse immer wieder an die Aufklärung angeknüpft werden. Gefragt sind die rege Artikulation und Aktualisierung der Werte der Aufklärung. (a.a.O.) Dazu passt folgendes Kant-Zitat: „Zwei Dinge erfüllen mein Gemüt mit neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: … Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir…“

 

Das AutorInnenkollektiv Loukanikos und weitere HistorikerInnen bereiten für Ende Oktober einen Workshop zu 1989/90 vor, den sie im Untertitel „Eine Bestandsaufnahme“ nennen. Bleibt zu hoffen, dass aus dieser Tagung ein dem rezensierten Tagungsband vergleichbares, zum Nachdenken anregendes „Lesebuch“ hervorgehen wird.

 

 

Info:

AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hg.), History is unwritten, Münster 2015, edition assemblage

 

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