Ein Nachruf auf Hellmuth Karasek – und ein Zwischenruf!

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Auf den Moment des Todes folgt allzu häufig und allzu schnell die Stunde der Phrasendrescher – so auch im Falle der langjährigen „zweiten Geige“ des „literarischen Quartetts“, des in der Tat vielseitigen und auch häufig geistreichen Hellmuth Karasek, dessen gewiß nicht wenige Verdienste es verdient hätten, ins rechte Licht gerückt, statt salbungsvoll umflort zu werden.

 

Am Abend des 29. 9. 2015, es war bereits dunkel, befand ich mich auf dem Bahnhof von Buchholz und wartete auf den Metronom-Zug von Bremen nach Hamburg. Ich hatte eine erfolgreiche literarhistorische Recherche am Nachmittag absolviert, war gleichermaßen glücklich, wie auch erschöpft – und ich dachte an Hellmuth Karasek!

 

Vor etwas über 10 Jahren hatte mir Jens, ein Freund aus Abiturzeiten, der gemeinsam mit mir den Deutschleistungskurs besucht hatte, eine erstaunliche und durchaus auch charakteristische Geschichte erzählt: Seine Freundin sei eines Abends mit dem ICE von Berlin nach Hamburg gefahren. In ihrem Abteil habe sie sich die ganze Zeit angeregt mit einem älteren Herrn unterhalten. Erst nach dem Aussteigen sei ihr so richtig zu Bewußtsein gelangt: „Das war doch Hellmuth Karasek!“

 

Mir kam diese Geschichte an jenem Abend wieder in den Sinn – ich war Hellmuth Karasek, anders als Marcel Reich-Ranicki, nie direkt begegnet, hatte ihn nur einmal flüchtig am Rosenmontag des Jahres 1996 in den Wirren des Frankfurter Hauptbahnhofs wahrgenommen, als er, vermutlich auf dem Weg zum Freund und Kollegen in der Gustav-Freytag-Straße, an mir vorüberging, aber jetzt, diesen Dienstagabend, kam mir die Idee, wie schön es doch wäre, ihm hier in Hamburg in einem Regionalzug oder in einer U-Bahn zu begegnen, mit ihm ins Gespräch zu geraten und ihm gar von meinen Forschungen zu berichten, die von seinen gegenwärtigen Tätigkeiten denkbar weit entfernt lagen, ihn wahrscheinlich aber gerade deshalb zu interessieren vermocht hätten.

 

Für die Angehörigen meiner Generation war Hellmuth Karasek, ebenso wie Marcel Reich-Ranicki, zunächst eine Figur aus dem Fernsehen. Sein leichter oberschlesischer Akzent (ich weiß, das ist ein nicht unerheblicher Widerspruch in sich!) war gewiß nicht minder markant als das harte, polnisch konnotierte Idiom des Literaturpapstes, wie auch die Schärfe seiner Urteile nichts zu wünschen übrig ließ, aber in seiner Art wirkte er auf schwer zu erklärende Weise zurückhaltender und gemäßigter – und gab womöglich gerade deshalb den idealen Widerpart ab; nicht zuletzt in den keineswegs seltenen Momenten der Differenz.

 

Karasek selbst meinte einmal, wenn Reich-Ranicki über ein Buch sage, es sei ein Meisterwerk, so klänge dies meist wie ein Todesurteil – wenn er hingegen urteile, das Buch sei gänzlich missglückt und der Autor habe nicht die Spur von Talent, so höre sich dies immer noch irgendwie nett, sympathisch, aufbauend an.

 

Der jugendliche Fernsehzuschauer mußte mit der Zeit merken, daß auch hinter der Figur Karaseks ein nicht unbeträchtliches schriftstellerisches Lebenswerk aufragte, das ihn überhaupt erst in die Situation katapultierte, zum Fernsehstar zu werden. Kurioserweise, wie ich erst viel später herausfinden sollte, erfolgte meine erste Begegnung mit seinem Genius lange, bevor ich zum ersten Mal das „literarische Quartett“ sah – im August 1988 las ich sein Daniel-Doppler-Interview mit Mathias Rust im SPIEGEL.

 

Karaseks Medienkarriere, wiewohl man ihn (und Reich-Ranicki sowieso!) natürlich schon lange vor dem „Quartett“ auf dem Bildschirm hatte bewundern können, nahm nun in den frühen 1990er Jahren rasant an Fahrt auf. Immer häufiger wurde er als Einzelperson und eben nicht als Statist oder bestenfalls Sidekick wahrgenommen. Während Reich-Ranicki, bei aller Popularität und allem Unterhaltungstalent, doch nie die Aura des strengen Zuchtmeisters loswurde, war Karasek der Professor zum Anfassen, fast schon so etwas wie der „Knuddel-Kritiker“, den man in unzähligen Talk- und Quizshows antreffen konnte und der über Philip Roth, John Updike und Paul Auster ebenso fundiert zu urteilen wußte wie über James Bond.

 

Die „Marke“ Karasek hatte ihre mediale Prägung gewonnen: „Lieber reich und ranicki als arm und karasek!“ witzelte einst im „stern“ der Kulturhistoriker Kuhno van Oyten.

 

Anfang der 2000er Jahre machte eine Umfrage nach dem erotischsten Mann Deutschlands die Runde – auf Platz 1 landete Boris Becker, dicht gefolgt von „Kaiser“ Franz und Konsorten. Platz 28 teilten sich Mario Adorf – und Harald Schmidt. „Wer entscheidet so etwas?“ fragte Letzterer in seiner Late Night Show mit ironisch überspitzter Empörung. „Wer sitzt da in der Jury? Hellmuth Karasek?“

 

Letztlich deutete dieser Scherz auf eine Tendenz in der öffentlichen Wahrnehmung Karaseks, die ihn selbst viele Jahre später einen Teilrückzug antreten ließ, um bestimmten Aspekten seines Images entgegenzuwirken, die ihm allmählich unangenehm wurden und durchaus schmerzlich offenbarten, daß auch einem Profi die mediale Selbstinszenierung zu entgleiten vermag. Der wandelnde Altherrenwitz, dessen Fachkenntnisse auf vielen Gebieten, ob als Literaturkritiker, Filmhistoriker oder auch als Politjournalist niemand ernstlich in Zweifel zog, selbst wenn er bei öffentlichen Auftritten, insbesondere bei Günther Jauch, immer häufiger kläglich versagte, wollte er nicht länger sein – und wer möchte so etwas überhaupt?

 

Anerkennung besonderer Art wurde dem freundlichen Teddy und Medienclown Karasek in Form satirischer Auseinandersetzung zuteil – das war auch unterhaltsam, vor allem aber: Ernst gemeint! Hermann L. Gremliza etablierte auf der Schlußseite eines jeden „konkret“-Heftes, im Rahmen seiner Oberrubrik „gremlizas express“, die Unterrubrik „Deutsch für Karasek“, worin der norddeutsche Nachfolger von Karl Kraus die neuesten stilistischen Schiffbrüche des früheren „Quartett“-Stars und späteren Rateonkels nicht nur genüßlich aufspießte, sondern vor allem nüchtern und kühl sezierte. Und kann man einem Künstler und auch einem Kritiker nichts Besseres wünschen, als ihn für würdig zu befinden, nach den höchsten Maßstäben beurteilt zu werden?

 

Im Frühjahr 2013 trat Karasek bei „hart aber fair“ auf – kein Ruhmesblatt seiner Karriere, und ich dachte mir beim Zusehen: „Das wird ein gefundenes Fressen für Gremliza!“

 

Dieser jedoch schien kapitulieren zu wollen. Ein „desolater Greis“ habe sich ihm dargeboten, „der sich zum Gaudium der Zuschauer“ vorführen ließ. Um sich „nicht auch an dieser hilflosen Person zu vergreifen“, habe er, Gremliza, entschieden, die erfolgreiche Serie „Deutsch für Karasek“, deren 29. Folge „hier hätte erscheinen sollen, sofort einzustellen.“ Umgehend schrieb ich einen Leserbrief an „konkret“ – meinetwegen möge man vielleicht für ein Heft pausieren, die Serie aber doch bitte fortsetzen. Ich hatte schon einige Briefe an „konkret“ geschrieben, die aber nicht veröffentlicht wurden – dieser erschien, und es sollte nicht mein letzter bleiben. So verdanke ich diesen kleinen schriftstellerischen Erfolg indirekt Hellmuth Karasek. Die Serie „Deutsch für Karasek“ wurde fortgesetzt. Nun dürfte sie unwiderruflich an ihr Ende gelangt sein.

 

Eine Gestalt von der Bedeutung Hellmuth Karaseks hat es verdient, daß man sie kritisiert, ihr widerspricht, vor allem aber: Daß man sie korrigiert – und dazu gab es wahrlich genügend Anlässe, die aber niemand zu nutzen wußte.

 

Unter den zahlreichen Leerformeln, die die Nachrufe füllen – allerdings nicht nur; es gibt auch fundierte und berührende persönliche Stellungnahmen! – findet man allzu häufig, neben den obligatorischen Hinweisen, wie gebildet, witzig und geistreich der Verstorbene gewesen sei, die Betonung seines Grenzgängertums zwischen U und E, zwischen Populärkultur und elitärer Hochkultur. Man verweist auf seine persönliche Nähe zu Billy Wilder und seine Chandlerübertragungen bei detebe (Diogenes).

 

Sehen wir davon ab, daß die vom Feuilleton gepriesenen Neuübersetzungen der Klassiker der „hard boiled novel“ von Experten vielfach der Unzulänglichkeit geziehen wurden und immer mehr Kenner auf die alten Ullsteinausgaben schwören (was gewiß nicht die alleinige Schuld Karaseks ist), sollte uns hier insbesondere jene imaginäre Grenze zwischen Anspruchsvollem und Trivialem interessieren, welche Karasek angeblich so souverän überschritten habe.

 

Mir scheint hier der Anlaß für einen fundamentalen Einwand zu liegen oder zumindest die Anregung für eine tiefergehende Überlegung sich zu bieten: Vielleicht hat Karasek, der Anfang der 1990er Jahre in einem Interview auf „Tele5“ todesmutig betonte, auch Goethes „Werther“ sei ein Unterhaltungsroman, am Ende mehr für die Zementierung einer solchen Grenze getan, als seinen Nachrednern und ihm selbst lieb gewesen ist. Womöglich hat er selbst sich nichts Böses dabei gedacht, aber Grenzgänger leben nun mal von Grenzen, die es zu überschreiten gilt – sonst wären sie ja keine Grenzgänger.

 

Die Medienfigur Karasek wird präsent bleiben, aber letzten Endes ist auch bei ihm allein das Werk von Bedeutung. Sein Beitrag als Kritiker, Biograph, Interviewspezialist, auch als Übersetzer und nicht zuletzt als Romancier und Stückeschreiber, bleibt für die Literaturgeschichte ungleich bedeutsamer als seine Fernsehauftritte. Obwohl er beides konnte, wird sich seine Besprechung des „Butt“ von Günter Grass langfristig als wichtiger und fortwirkender erweisen denn seine Besprechung des Ikeakatalogs – auch wenn wir im Falle des ersteren inhaltlich mit ihm differieren.

 

Von seinem Tod erfuhr ich am Morgen des 30. 9. 2015 im Speisesaal meines Hotels aus dem Frühstücksfernsehen. Als er starb, dürfte ich gerade „annähernd schottisch“, wie es in einem von ihm und Marcel Reich-Ranicki im August 1995 verrissenen Grassroman heißt, zu Abend gegessen haben. Stilecht? Durchaus.