Wieder gelesen! Anders gelesen! Neu gelesen!, Teil 1: Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland von Pascale Hugues

 

Thomas Admaczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) - Manche Bücher liest man gern noch einmal, aber welche? Es gibt natürlich immer Erklärungen dafür, zu welchem Buch man in welche Situation ein zweites oder sogar ein weiteres Mal greift.

 

Marthe & Mathilde“ habe ich hervorgekramt, weil es genau in die jetzige Zeit passt.

Warum? Einige Anmerkungen dazu:

 

Eine französische Journalistin lässt sich im September 1989 von der Tageszeitung „Liberation“ nach Berlin versetzen. Ihre Kollegen schütteln den Kopf, dass sie aus dem aufregenden London zu den langweiligen „Boches“ geht. Und dann überschlagen sich in Berlin die Ereignisse und unsere Journalistin beglückwünscht sich, beim Fall der Mauer dabei gewesen zu sein. Glück muss man haben!

 

Die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands bringt sie auf die Idee, sich die Geschichte ihrer Familie näher anzusehen, denn vieles, was sie in Berlin und in dem wiedervereinigten Deutschland beobachten kann, erinnert sie an die wechselvolle Geschichte des Elsass, in dem sie geboren wurde. Marthe und Mathilde sind ihre beiden Großmütter, beide aus dem Elsass. Mathilde aus einer Familie mit deutschen Wurzeln, Marthe hat eine sich französisch definierende Familie.

 

Im Verlaufe des Buchs werden wesentliche Teile der unguten Geschichte des Elsass als einer Region zwischen Frankreich und Deutschland skizziert. Napoleon sorgte dafür, dass Elsass/Lothringen zu Frankreich kam, nach dem deutsch/französischen Krieg 1870/1871 wurden Elsass und Lothringen, damals „Reichsland“ genannt, Teile des Deutschen Reiches. Im Ersten Weltkrieg dienten zweihundertfünfzigtausend Elsässer in der kaiserlichen Armee. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet wieder ein Teil Frankreichs. Am 11. November 1995 bewilligte der französische Präsident Jacques Chirac allen überlebenden Kämpfern des Ersten Weltkriegs, die bis dahin noch nicht ausgezeichnet worden waren, den Orden der Ehrenlegion. Geehrt wurden dreitausend ziemlich alte Herren. Die hundertfünfundvierzig noch lebenden Elsass-Lothringen dagegen waren von der Liste des Präsidenten gestrichen worden, sie bekamen, weil sie auf der „falschen“ Seite gestanden hatte, keine Ehrung.

 

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Colmar der Sieg über die Deutschen frenetisch gefeiert, die deutsche Sprache wurde verboten, womit sich das wiederholte, was die Deutschen nach 1871 durchgesetzt hatten. Eine zutiefst nationalistische Politik versuchte nach 1918 den bisherigen Einfluss Deutschlands rückgängig zu machen. Wie das ging, hatten die Deutschen von 1871-1918 vorgemacht. Elsass-Lothringen, das siebenundvierzig Jahre deutsch gewesen war, wurde 1918 französisch, 1939-1945 wieder deutsch und danach erneut französisch.

 

Was bedeutete das für die Menschen, die dort lebten und leben?

 

Das ist das Thema der Autorin, die am Beispiel ihrer beiden Großmütter, die noch dazu miteinander befreundet waren, zeigen kann, wie übersteigerter Nationalismus und Chauvinismus das Leben der Menschen beeinträchtigt. Mathilde, die in Colmar bis 1918 das Gymnasium besuchte, wird der Schule verwiesen. Freunde und Bekannte brechen den Kontakt mit ihrer Familie und ihr ab. „Ein Jahr lang sprach keiner mehr mit uns. Dabei waren wir doch rechtschaffene Leute.“ (S. 77)

 

Die beantragte Einbürgerung ihres Vaters, Karl Georg Goerke, dessen Familie aus Memel stammt, wird abgelehnt. Die Prüfungskommission für Einbürgerungsgesuche des Départements Haute-Alsace ist „trotz der langjährigen Ansässigkeit des Antragstellers in Colmar nicht von dessen französischer Gesinnung überzeugt“. Der Antrag wird abgelehnt. Erst der zweite Versuch, Karl Georg Goerke stellt 1925 einen neuen Antrag, führt 1927 ans Ziel. Der Urgroßvater der Autorin ist endlich für würdig befunden worden, Franzose zu werden. Über zehn Jahre hat er darauf warten müssen. Er stirbt am 3. Juli 1941 als Bürger des „Dritten Reiches“.

 

Während ihrer ganzen Kindheit und Jugend hat sich Mathilde mit ihren deutschen Wurzeln nie voll anerkannt gefühlt. Sie gehörte nie ganz dazu, und so erklärt Pascale Hugues die „unendliche Traurigkeit Mathildes“. Zu dem Makel, aus einer „deutschen“ Familie zu stammen, kommt ein weiterer: Mathilde stammt aus einem protestantischen Haushalt und heiratet in eine katholische Familie. Sie war ein „ungesundes Geschwür im Körper dieser katholischen, französischen Familie“ (S. 168), schreibt die Enkelin. Trotz aller Anpassungsbereitschaft, trotz allen Bemühens, im französischen Elsass angenommen zu werden, blieb dies der Familie von Mathilde versagt. Erst die Kinder und erst recht die Enkelin von Mathilde sind trotz ihrer teilweise deutschen Wurzeln endlich Bürgerinnen/Bürger Frankreichs, denen offensichtlich kein an den ehemaligen Erzfeind Deutschland erinnernder Makel mehr anhängt. Doch zu welchem Preis? Mathilde hat ihren Vater in ihrem ganzen Leben nie deutsch sprechen hören, nicht einmal 1940, als die Elsässer Deutsche wurden. Er fühlte sich als Franzose, verleugnete die deutsche Herkunft seiner Mutter. Erst die Enkelin beendet die schroffe Zurückweisung der deutschen Wurzeln. Sie kann sich der deutschen Vergangenheit eines Teiles ihrer Familie neugierig und offen zuwenden. Überschwänglich ist die Freude von Mathilde, als sie erfährt, dass die Enkelin nach Berlin geht und „tröpfchenweise“ verabreichte sie dieser ihre Lebensgeschichte, erzählt „von ihrem Leben als junges deutsches Mädchen“ (S. 123).

 

 

Was macht dieses Buch heute besonders lesenswert?

 

Am Beispiel der Familiengeschichte der Autorin versteht man die verheerenden Auswirkungen des unsäglichen Gezerres um einen landschaftlich und kulturgeschichtlich beeindruckenden Landstrich, der zwischen zwei Nationalstaaten liegt. Diese zwei Staaten haben es fertig gebracht, in fünfundsiebzig Jahren drei Kriege gegeneinander zu führen, der Abertausende von Menschenleben kostete.

Siebzig Jahre nach Ende des letzten dieser drei Kriege stellt sich erneut die Frage: Warum? Warum nur?

 

Es wäre doch auch anders gegangen, und mittlerweile geht es, wenigstens in dieser Region der Welt, zum Glück anders. Im Elsass wächst hervorragender Wein, auf der gegenüber liegenden deutschen Seite, zum Beispiel im Kaiserstuhl, wächst auch vorzüglicher Wein. Sollen doch Franzosen und Deutsche bei ihren Weinen miteinander konkurrieren und sich streiten, wer den besseren, süffigeren hat. Colmar ist eine hübsche Stadt, Straßburg sowieso, aber Freiburg ist doch auch ausgesprochen sehenswert. Stimmt das etwa nicht?

 

Die Grenze zwischen beiden Ländern ist dank Schengener Abkommen gefallen. Deutsche fahren in den Elsass, um dort Urlaub zu machen, einzukaufen, was weiß ich aus welchen Gründen noch. Und umgekehrt ist es genauso. Im Elsass lässt es sich gut leben, im Breisgau und in der Pfalz ebenfalls, bei entsprechender Einstellung derjenigen, die in diesen Regionen leben oder sie für eine gewisse Zeit aufsuchen.

 

Und wenn sich die Menschen ein gutes, möglichst gelingendes Leben gegenseitig gönnen, gibt es keinerlei Grund, dem anderen, der Gegenseite, in irgendeiner Weise zu drohen. Besser sind allemal: freundschaftliche, nachbarschaftliche Beziehungen!

 

Der Elsass war früher mal Deutsch?“ - „Na und!“

Die Elsässer mussten Deutsch sprechen?“ - „Oh je!“ „Ach du liebe Güte!“

Die furchtbaren Konflikte um Elsass/Lothringen kann die junge Generation von Deutschen und Franzosen kaum noch verstehen. Gut so! Gut so?

 

Das lesenswerte Buch von Pascale Hugues hat den Vorzug, dass die Leserin, der Leser sich die Destruktivität von Konflikten zwischen Nationalstaaten am Beispiel der privaten Geschichte einer Familie bewusst machen kann. Die Traurigkeit Mathildes, das verzweifelte Bemühen um Anpassung ihres Vaters können aus den jeweiligen Zeitumständen erklärt und verstanden werden.

 

Wie viel „Traurigkeit“ und verzweifelte „Anpassungsbereitschaft“ gibt es bei Migrantinnen und Migranten, die sich in diesem Land Schutz und Sicherheit erhoffen, endlich ein besseres Leben, ein Leben ohne Angst vor Gewalt, ein Leben ohne Hunger und permanente Not. Und diese Menschen, die voller Hoffnung hierher kommen, machen die Erfahrung, dass sie nicht richtig dazugehören, dass sie nach Möglichkeit bald wieder zu verschwinden haben, dass nicht wenigen Menschen in diesem Land ihre Geschichte ziemlich egal ist.

 

Pascale Hugues schreibt, noch in den siebziger Jahren habe es im Elsass „zum guten Ton gehört, die Deutschen zu verachten“ (S. 260). Und heute? Das Buch zeigt auf sympathisch eindringliche Weise, was für ein Wahnsinn es ist ist, eine Gruppe von Menschen wegen ihrer Nationalität, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe oder aus anderen Gründen „zu verachten“.

 

 

Nicht durchgängig gelungen

 

Das Buch ist allerdings nicht durchgängig gelungen. Einige Einwände müssen formuliert werden. Dass die Autorin Interesse daran hatte, die Geschichte ihrer Großmütter, vor allem die von Mathilde, genau zu rekonstruieren, ist sehr wohl verständlich. Aber wie groß ist das Interesse der Leserinnen/Leser an all den anderen Verwandten aus der Familie der Autorin?

 

Für deutsche Leserinnen und Leser ist vor allem Georgette, die ältere Schwester von Mathilde, die als Lehrerin 1918 nach Berlin versetzt wurde, wichtig. Sie erlebte 1919 die Novemberrevolution mit, anschließend die Anfänge der Weimarer Republik, den Kapp-Putsch und den folgenden Generalstreik sowie die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Georgette arbeitete als Lehrerin an einer nicht konfessionellen Schule, der ersten dieser Art in Preußen. Sie verstand sich als „sozialistische Erzieherin“. Ihre erhaltenen Briefe, leider wurden viele wohl von ihrer Mutter verbrannt, zeugen von Schreibbegabung. Vermutlich ist sie Vorbild für die Autorin.

 

Aber all die anderen Figuren aus der Familie, sind die für heutige Leserinnen und Leser interessant? Das wird jeder Leser, jede Leserin für sich anders beantworten, und das ist gut so. Doch der Kritiker muss die Frage stellen, ob dem Durchschnittsleser nicht zu vielen Privatheit, nebensächliche Privatheit zugemutet wird, und diesen Eindruck entsteht beim Lesen gelegentlich. Das ist das Risiko, welches ein solches Buch eingeht, das zwischen dem Besonderen, Privaten und dem Allgemeinen, politisch Relevanten unterscheiden muss.

 

 

Politischer Hintergrund

 

Zweihundertfünfzigtausend Elsässer haben im Ersten Weltkrieg in der deutschen Armee gedient. Über deren Schicksal hätte man gern etwas mehr erfahren. Die Autorin beschreibt Jubelfeiern in Colmar am Ende des Krieges, spricht die Vertreibung von vielen deutschstämmigen Elsässern an, ohne sich dieser Problematik ausführlich genug zu widmen. Immerhin zitiert sie den Hilferuf, den der Bund der vertriebenen Deutschen am 20. Januar 1919 an den amerikanischen Präsidenten Wilson richtete:

Die in Elsass-Lothringen bisher als vollberechtigte Staatsbürger eingesessenen Einwohner deutscher Abstammung, denen das Land unbestritten einen großen Teil seiner Blüte verdankt, wenden sich in höchster Not an den Vertreter des freien amerikanischen Volkes mit der Bitte um Schutz gegen grausame Maßregeln französischer Willkür gegen mehr als 400 000 Menschen. Von den Franzosen werden in Straßburg, Colmar, Mühlhausen und anderen Orten die Bewohner deutscher Abstammung in schmachvoller Weise öffentlich zusammengetrieben, dem Straßenpöbel vorgeführt, von diesen schwer misshandelt, beschimpft und vielfach wie Viehtransporte in offenen Automobilen über die Grenze gebracht. Nur geringe Nahrungsmittel, 20-30 Kilo Gepäck, darf eine Familie mitnehmen, Hausrat und das ganze übrige Privatvermögen werden gewaltsam zurückbehalten, vielfach verschleudert oder zwecklos vernichtet … Sollten Sie, Herr Präsident, nicht schleunigst Hilfe bringen, so tritt ein niemals wieder gutzumachender Notstand ein. Das Angedenken an diese Maßregeln würde im deutschen Volke niemals erlöschen. Ihre Absicht des Völkerfriedens für alle Zeiten vereitelt sein. Der Ausschuss der in Freiburg (Baden) in verzweifelter Lage meist ohne Unterhaltmittel angesammelten Vertriebenen fordert, dass den Vertriebenen wenigstens ihr Privateigentum zurückerstattet wird.“

 

Der Urgroßvater der Autorin unterschreibt den Appell nicht, er will um jeden Preis im Elsass bleiben und nicht durch seine Unterschrift die Abschiebung riskieren. „Er zieht es vor, sich tot zu stellen und zu warten“ (S. 66), schreibt die Autorin. In den Zeitungen wird mit Hasspamphleten gegen die „Deutschen“ Stimmung gemacht. Sie werden als „Räuber“, „Eindringlinge“, „Lügner“, „Unterdrücker“ beschimpft. Die Deutschen seien ein „feiges Volk“, die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich eine „fluchenswerte Tyrannei“ gewesen. „Die Bewohner des Elsass werden nach Kriterien der Rassenreinheit in vier Kategorien eingeteilt.“ (S. 72). Es gibt vier Identitätskarten. A, B, C, D stehen für legitime, geduldete, zu adoptierende und, als unterste Kategorie, deutsche Staatsbürger. Und die Deutschen, die Boches, werden aus dem Elsass vertrieben.

 

Es gibt rasche Ausweisungen, „Säuberungskommissionen“ beginnen schon 1918 mit ihren Aktivitäten. Der Vater von Mathilde verliert seine Arbeit. Er war Vertreter für ein Kaffeehaus in Hannover, das in Frankreich nach dem verlorenen Krieg keinen Vertreter mehr beschäftigen will. Dennoch will Karl Georg Goerke in Colmar bleiben, denn die Familie fühlt sich ja gut integriert. Sie muss diesen Entschluss mit vielen Erniedrigungen bezahlen.

 

Darüber kann die Großmutter erst mit der Enkelin sprechen, als diese in Berlin ist und Mathilde wegen der verblüffenden Parallele zwischen ihrer großen Schwester Georgette und der Enkelin bereit ist, über diese Zeit der Demütigungen zu sprechen.

 

Hier fehlt es an gesichertem Zahlenmaterial. Wie viele der deutschen Familien sind wie die Goerkes im Elsass geblieben, konnten sich also erfolgreich der drohenden Ausweisung widersetzen? Zu vermuten ist, dass dies nur in einzelnen Fällen gelang. Aber zu wenig erfährt man, wie die mit dem Massenexodus verbundenen unausweichlichen Konflikte in den Familien aussahen. Wie war die Stimmung in den Dörfern, in den Schulen, auf der Straße? Und wie haben die französischen Elsässer reagiert? In der Mehrzahl mit Schadenfreude? Oder gab es Beispiele von Solidarität, wie sie auch Karl Georg Goerke durch die Familie von Marthe erfuhr? Das kommt zu kurz, musste nach Auffassung der Autoren vielleicht zu kurz kommen, weil ja die Familiengeschichte von Mathilde und Marthe im Vordergrund steht. Ein analytischer Ehrgeiz, den Konflikt um Elsass/Lothringen in einem größeren politischen Zusammenhang zu sehen, hätte dem Buch gut getan. Im Übrigen lässt sich an diesem insgesamt lesenswerten Sachbuch sehr gut der Unterschied zu einem Roman deutlich machen.

 

Thema für einen Roman wäre auf alle Fälle Mathilde, deren schulischer Werdegang 1918 abrupt endete, weil sie als Deutsche in Colmar aus der Schule verwiesen wurde. Und lesenswert wäre in einem Roman natürlich, wie dieses Mädchen damit zurecht kommen musste, dass über ein Jahr niemand mit ihrer Familie und ihr Kontakt haben wollte und demzufolge kaum noch jemand mit ihr sprach. Aufschlussreich wäre auch der Blick in die Innenwelt von Karl Georg Goerke, der sich in der damaligen Situation voller Hass auf die Deutschen entschied, in Colmar zu bleiben. Und zu Wort kommen müssten eigentlich auch französische Familien im Elsass, die sich darüber äußern, was ihnen von den Deutschen in der Zeit nach 1871 ihrer Auffassung nach angetan wurde.

 

Die Menschen sind die Geschichten, die sie erzählen. Wir erfahren in dem vorliegenden Buch einiges aus dem Leben von Mathilde. In diesem Buch steckt noch eine Vielzahl von Geschichten, die darauf wartet, erzählt zu werden.

 

Info:

Pascale Hugues, Marthe & Mathilde. Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 10. Auflage 2014