Christoph Husts „August Bungert: ein Komponist im Deutschen Kaiserreich“
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wer kennt heutzutage noch August Bungert? Mittlerweile nurmehr in musikhistorischen Spezialenzyklopädien verzeichnet, kann dem Leser von Konzertführern der 50er und 60er Jahre durchaus noch etwas von der Fama entgegenwehen, die dem Namen des 1845 in Mülheim an der Ruhr geborenen und 1915 in Leutesdorf am Rhein verstorbenen Dichterkomponisten einst anhaftete.
Man wird dort von einer Wagner an Aufwand noch überbietenden musikdramatischen Tetralogie mit dem Titel „Homerische Welt“ hören, die nach dem Tod Bungerts rasch der Vergessenheit anheimfiel, aber immerhin noch Ernst Bloch in seinem „Geist der Utopie“ einer abschätzigen Bemerkung wert erschienen war, und von zahlreichen Liedvertonungen, insbesondere nach Texten der unter dem Pseudonym „Carmen Sylva“ dichtenden Königin Elisabeth von Rumänien, durch die allein Bungert der Gegenwart noch ein Begriff sei – letzteres eine Aussage, von der man guten Gewissens behaupten darf, dass sie inzwischen jegliche Gültigkeit eingebüßt habe.
Christoph Husts „August Bungert: ein Komponist im Deutschen Kaiserreich“, die Buchausgabe seiner 2004 mit dem Preis der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität ausgezeichneten Doktorarbeit, schließt keine Lücke der Forschungsliteratur zu August Bungert – vielmehr wird diese, abgesehen von vereinzelten qualifizierten Aufsatzpublikationen anderer Autoren in den letzten Jahrzehnten und den Hagiographien von Bungerts Apologeten Max Chop sowieso, hiermit überhaupt erst etabliert. Auf rund 600 Seiten entfaltet Hust die Werkbiographie eines Tonkünstlers, der seit über 90 Jahren im Konzertbetrieb keine Rolle mehr spielt und auch diskographisch so gut wie inexistent ist. Von Werkbiographien weitgehend – nein, doch besser: vollständig vergessener Komponisten wie August Bungert dürfte anzunehmen sein, dass sie kaum über die Grenzen eines zahlenmäßig nicht allzu hoch zu veranschlagenden Fachpublikums hinaus wahrgenommen werden; gleichwohl könnte dieses Buch auch das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit auf Leben und Schaffen eines Mannes richten, der nicht nur ganz Kind seiner Zeit war, sondern dieser in einigen Punkten sich auch widersetzte – freilich ohne jemals direkt gegen den Strom zu schwimmen.
Husts Studie versucht nicht, Bungert als verkanntes Genie zu präsentieren. Vielmehr geht es dem Autor um eine realistische Annäherung an einen respektablen, für seine Zeit wichtigen Künstler, dessen Werk die Beschäftigung lohne, obwohl sein Schöpfer vielleicht nicht zu den wirklich Grossen der Musikgeschichte zu zählen sei. Somit wird auch seine Vergessenheit lediglich erklärt, jedoch keineswegs gerechtfertigt. Dass über manche Werke Bungerts, insbesondere seine Musikdramen, das letzte Wort noch nicht gesprochen sein sollte, weiß der Verfasser überzeugend darzulegen. Erfrischend liest sich auch die vorgebrachte Kritik: Bungerts Violinsonate in fis-moll wird nicht etwa, wie man es von musikalischen Heldenlegenden erwarten könnte, als geniales Jugendwerk vorgestellt, das bereits die meisterliche Reife im Keime in sich trägt, sondern in ihrer weitgehenden kompositorischen Unzulänglichkeit erörtert. Die musikalische Analyse steht in diesem Buch naturgemäß im Vordergrund, doch, wie es die Beschäftigung mit einem Dichterkomponisten so mit sich bringt, wird auch das literarische Schaffen Bungerts ausgiebig untersucht – nicht nur seine Libretti und essayistischen Schriften, sondern auch seine Lyrik nicht unbeträchtlichen Umfangs, die er in großen Teilen im 1912 erschienenen Gedichtband „Blut“ zusammenfasste (der zudem mit einigen merkwürdigen autobiographischen Mystifikationen aufwartet!), und die dichterischen und philosophischen Einflüsse, die ihn prägten; vorrangig Goethe, Schopenhauer, Wagner und Nietzsche.
Ein besonderer literarischer Reiz dieser Studie: Bei ihrer Lektüre hat man unwillkürlich das Gefühl, dem Lebensweg einer Figur aus Wolfgang Hildesheimers „Lieblosen Legenden“ zu folgen; einer jener Pilz, Golch oder Bloch (sic!) benamsten Gestalten, die irrlichternd die Bahnen der Großen der Welt- und Kulturgeschichte kreuzten, ohne selbst nennenswerte Spuren zu hinterlassen oder allenfalls im Verborgenen weiterwirkten – mit dem entscheidenden Unterschied, dass August Bungert tatsächlich gelebt hat! Dass er Richard Wagner, mit dem man ihn so häufig in Verbindung brachte, niemals begegnet ist, muss fast als Kuriosität aufgefasst werden angesichts der Reihe illustrer Zeitgenossen, mit denen ihm Umgang zu pflegen vergönnt war. Während seiner Studienjahre in Paris rührte seine Interpretation Beethoven´scher Klaviersonaten Hector Berlioz zu Tränen, und Giacchino Rossini warnte ihn vor dem schädlichen Einfluss Wagners. Sein Klavierquartett in Es-Dur op. 18 brachte ihm den ersten Preis dieser Kategorie in einem Kompositionswettbewerb ein, den Johannes Brahms Ende der 1870er Jahre leitete. Anfang der 1880er Jahre konversierte Bungert während eines ausgedehnten Italienaufenthaltes mit Giuseppe Verdi und machte später die Bekanntschaft Friedrich Nietzsches, der davon in seinen Briefen an Heinrich von Köselitz alias Peter Gast berichtete. Bismarck bedankte sich 1885 in einem Schreiben an Bungert für eine von ihm zu Ehren seines 70. Geburtstags komponierte Hymne.
Doch von solchen Berührungspunkten abgesehen, verlief Bungerts Leben undramatisch, wenn es auch in einigen Aspekten romantischen Klischeevorstellungen vom begnadeten Künstler entgegenkam. Der schon früh musikalisch hochbegabte Sohn eines Kaufmanns schlug gegen den Willen des Vaters und mit Unterstützung durch die Mutter nach der Schule die Komponistenlaufbahn ein, studierte in den 1860er Jahren Musik unter anderem in Köln und Paris, hatte um 1870 verschiedene Kapellmeisterstellen inne und verbuchte erste Erfolge mit eigenen Werken, begann später in Berlin erneut zu studieren, wurde insbesondere aufgrund seiner Lieder immer erfolgreicher und gewann zudem die Bewunderung adeliger Kreise, vor allem des rumänischen und des schwedischen Königshauses, die ihn auch finanziell förderten. Obgleich ein großer Bewunderer Wagners, mahnte er dennoch in seinen theoretischen Schriften, von einer Verabsolutierung Wagnerscher Konzepte abzusehen und war auch in seinem eigenen Schaffen keineswegs ein Epigone des Bayreuther Meisters. In zweierlei Hinsicht strebte er diesem jedoch offenkundig nach: Zum einen bemühte sich Bungert unermüdlich bei den verschiedensten Gemeinden (Bad Kreuznach, Bad Münster, Bad Godesberg) um ein nur seinen eigenen Bühnenwerken gewidmetes Festspielhaus – Bemühungen, die zwar im Falle Bad Godesbergs durchaus ins Stadium ernsthafter Planung gelangten, aber letztlich von Misserfolg gekrönt blieben. Zum andern arbeitete Bungert knapp 20 Jahre an einem Werk, das dazu angetan war, die Grundlage für solche Festspielbestrebungen darzustellen, wenn es sich auch auf die Dauer nicht zu behaupten vermochte – die bereits erwähnte Tetralogie „Homerische Welt“, auch „Die Odyssee“ genannt, welche Bungert in späteren Jahren noch um eine „Ilias“-Hexalogie zu erweitern beabsichtigte.
Ob Bungert bei diesen Werken ernstlich die Absicht hegte, mit Wagner zu konkurrieren, muss bezweifelt werden. Sicher ist jedoch, dass seine „Odyssee“ den Vergleich mit der Ringtetralogie provozieren musste und hierbei unterlag. Die „Odyssee“ ist somit als Höhe- wie Wendepunkt in Bungerts Karriere zu betrachten – die Bühnen der ersten Opernhäuser Deutschlands, aber auch anderer europäischer Staaten, brachten die einzelnen Teile zur Aufführung, doch der anhaltende Erfolg stellte sich nicht ein. Die Gründung eines vorrangig der Pflege seiner Werke verschriebenen Bungert-Bundes markierte den endgültigen Abstieg in der öffentlichen Wahrnehmung des „meistgenannten Tondichters der Gegenwart“, als den ihn sein Freund Max Chop noch 1903 eingeschätzt hatte.
Gerade der rasch in Polemik umschlagende Enthusiasmus seiner fanatischen Bewunderer, sollte seine fortschreitende Isolation vom Musikleben nach 1900 noch beschleunigen. Wiewohl kein Neuerer, war Bungert gewiss auch kein Reaktionär, sondern ein Musiker, der sich auf der Höhe seiner Zeit bewegte, ohne freilich über diese hinausweisen zu wollen und zu können. In den Publikationen des Bungert-Bundes mutierte er jedoch – unwillentlich? – zum Idol eines rückwärtsgewandten Kunstideals, für dessen Anhänger Arnold Schönberg und Richard Strauss noch eine kakophone Einheitsfront destruktiver Neutönerei bildeten. Doch wie so häufig, erwies sich auch hier Polemik als wenig wirkungsvoller Verbündeter. Bungert musste das herbe Los des Heldentums auf sich nehmen, das er in einem Gedichtentwurf mit dem Schicksal des Künstlers gleichsetzte, auch um den Preis der Verkennung willen allein seinen Idealen nachzustreben. Ein weiterer Zug, der ihn uns Heutigen sympathisch erscheinen lässt: trotz seiner deutschnationalen Gesinnung brach er angesichts des Ersten Weltkriegs nicht in Hurra-Patriotismus aus, sondern soll sogar den Versuch unternommen haben, durch die Vertonung von Gedichten in Esperanto ein künstlerisches Gegengewicht zum Wüten des Ungeistes zu setzen.
Zu den wenigen erfreulichen Aspekten seiner Vergessenheit muss ironischerweise die Tatsache gezählt werden, dass seinen Werken Vereinnahmungsversuche von Seiten der nationalsozialistischen Kulturpolitik erspart blieben. Weniger erfreulich ist, dass sein Nachlass quasi unbeachtet bis Mitte der 1960er Jahre in seiner Leutesdorfer Villa aufbewahrt, später jedoch auf verschiedene Privatbesitzer verstreut wurde, was für den Biographen ein nicht unerhebliches Problem dargestellt haben muss – ein Problem, das man angesichts der biographischen Teile des Buchs allerdings als mit Bravour gemeistert zu bezeichnen genötigt ist. Husts Studie braucht den Vergleich mit Werken wie Willi Reichs Schönbergmonographie oder Martin Gregor-Dellins „Richard Wagner – sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert“ nicht zu scheuen, wenngleich ihr aufgrund der Unbekanntheit Bungerts eine diesen vergleichbare Resonanz kaum beschieden sein dürfte – es sei denn, ein mutiger Dirigent und ein aufgeschlossenes Publikum stellten sich der Herausforderung, Bungerts Musik auf ihre heutige Lebensfähigkeit hin zu überprüfen.
Christoph Hust:
August Bungert: ein Komponist im Deutschen Kaiserreich
Mainzer Studien zur Musikwissenschaft ; Bd. 43
Schneider Verlag, Tutzing 2005
Erscheinungsjahr: 2005
608 S. , EUR 95.00
ISBN: 3-7952-1131-X
Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten von http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9543&ausgabe=200606 übernommen. Für die Neuveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet.