Der Briefwechsel zwischen Gerhart Hauptmann und Joseph Chapiro
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Joseph Chapiro wird praktisch in sämtlichen Publikationen über ihn und Gerhart Hauptmann als „Gerhart Hauptmanns Eckermann“ bezeichnet. Dieser Titulierung haftet Positives wie Negatives an. Neutral betrachtet, ist im deutschen Sprachraum ein Eckermann, wer Gespräche mit einer bedeutenden Persönlichkeit, vorwiegend aus dem Bereich der Literatur oder generell der Schönen Künste, geführt und in Buchform veröffentlicht hat.
Im Falle Goethes ist dies logischerweise Johann Peter Eckermann, im Falle Gerhart Hauptmanns Joseph Chapiro (trotz späterer ähnlich gearteter Werke Hans von Hülsens und Carl Friedrich Wilhelm Behls), im Falle Franz Kafkas Gustav Janouch. Als Igor Strawinskys Eckermann ließe sich Robert Craft bezeichnen, aber damit wären wir im angloamerikanischen Sprachraum, und da sollte man sich historisch korrekt auf die ursprünglichen Dialogpartner entsprechenden Kalibers berufen, nämlich Dr. Samuel Johnson und „seinen“ James Boswell. Konsequenterweise müsste man auch Eckermann „Goethes Boswell“ nennen, aber hierzulande bezeichnet man viel lieber Boswell als Dr. Johnsons Eckermann.
Eckermann wurde wiederholt der Vorwurf der persönlichen Farblosigkeit und des devoten Nachbetens der Weisheiten und auch Allerweltsweisheiten des Weimaraner Olympiers gemacht; dem gegenüber stehen jedoch das Urteil Nietzsches, die „Gespräche mit Goethe“ seien das beste Buch in deutscher Sprache überhaupt, und Goethes eigene Feststellung, ohne Eckermanns beharrliches Drängen und Ermuntern wäre der zweite Teil des „Faust“ nie geschrieben worden.
Wie auch immer man nun zu Eckermann oder einem der späteren Eckermänner stehen mag – feststehen dürfte, dass ein nicht zu unterschätzendes Maß an geistiger Eigenständigkeit und Ebenbürtigkeit auf Seiten des Juniorpartners vorhanden sein muss, damit ein gewinnbringendes Gespräch zustandekommen kann – geschweige denn ein ganzes Buch.
Joseph Chapiro lebte nicht allein für Gerhart Hauptmann, und Gerhart Hauptmann brauchte ihn auch nicht, um sich zum Weiterschreiben ermutigen zu lassen – das lief bei ihm schon von selbst. Vielmehr haben wir es bei dem 1893 in Kiew geborenen Chapiro mit einem höchst vielseitigen Zeitgenossen zu tun, der auf unterschiedlichsten Gebieten mit hervorragenden Leistungen aufzuwarten vermochte, insbesondere als Vermittler deutscher und französischer Kultur nach dem Ersten Weltkrieg und als Verfasser von Studien über Francois Villon, Moses Maimonides und Erasmus von Rotterdam, und dessen Einsatz für Gerhart Hauptmann Früchte tragen sollte, die bis heute bedeutsam geblieben sind. Der Kontakt kam über Max Reinhardt zustande, als dessen Mitarbeiter Chapiro zwangsläufig auch mit dem Dramenwerk Gerhart Hauptmanns befasst war.
Der einen Zeitraum von knapp 16 Jahren, von 1920 bis 1936, umspannende Briefwechsel zwischen Chapiro und dem Ehepaar Hauptmann dokumentiert eine freundschaftliche Arbeitsbeziehung. Von Anfang an spielen berufliche Dinge, insbesondere Fragen der Veröffentlichung, Aufführung und Übersetzung Hauptmannscher Bühnenwerke, eine ebenso große Rolle wie persönliche, etwa Reiseplanungen, aber auch Chapiros tragischer Verlust seines Sohnes und seiner Schwester innerhalb weniger Tage 1922. Seit diesem Jahr ist eines der Hauptthemen der Korrespondenz auch die Idee, Hauptmanns und Chapiros zahlreiche Gespräche zu verschiedensten Themen aufzuzeichnen und zu publizieren. Dabei dachten beide nicht an Interviews im modernen Sinne, vielmehr war es Chapiro darum zu tun, die Essenz mehrerer Unterhaltungen zu einem übergreifenden Komplex in jeweils einem Kapitel zusammenzufassen, die solcherart überarbeiteten „Gespräche“ von Hauptmann gegenlesen zu lassen und in dieser autorisierten Form zu veröffentlichen. Dass die so entstandenen „Gespräche“ natürlich weniger Hauptmann im Originalton denn Hauptmann im Spiegel und sicher auch in der Stilisierung Chapiros bedeuteten, wurde von niemand anderem als Hauptmann selbst mehrfach betont, der dem Freund zudem stets das alleinige geistige Eigentum an ihnen bestätigte.
Ab 1924 erschienen die „Gespräche“ in unregelmäßigen Abständen in verschiedenen Tageszeitungen. Allerdings kam ihre endgültige Fassung nicht immer problemlos zustande. Die Unterhaltung über „Politik und Kultur“ bedurfte mehrfacher Revision, um von Hauptmann anerkannt und freigegeben zu werden; in eine Veröffentlichung des Gesprächs über „Juden – ein romantischer Begriff“ wollte Hauptmann aus nicht mehr eindeutig rekonstruierbaren Gründen auch bei der Buchausgabe der „Gespräche“, für die sämtliche zuvor veröffentlichten Texte erneut bearbeitet worden waren, nicht einwilligen.
Gleichwohl führte dies zu keinerlei Verstimmung zwischen dem Dichter und seinem jüdischen Gesprächspartner. Hauptmann dankte Chapiro in seinem Vorwort zu den „Gesprächen“ dafür, dass der Freund sein Bild in der Öffentlichkeit, das unter anderem durch die Hauptmann nachgebildete Gestalt des Mynheer Peeperkorn in Thomas Manns „Zauberberg“ ein wenig ins Lächerliche gezogen worden sei, wieder korrigiert habe. Ironischerweise findet sich in einem Brief Chapiros an Margarethe Hauptmann vom 21. Dezember 1924 ein Bericht über ein Gespräch mit dem Ehepaar Mann, das Chapiro erst so recht zu Thomas Mann bekehrt habe, weil Mann hier voller Wärme und Ehrfurcht von Hauptmann gesprochen habe, sowie über seine ersten Leseeindrücke des frisch erschienenen „Zauberbergs“, der ihn zutiefst begeisterte. Hatte er die offenkundigen Parallelen (noch) nicht bemerkt, aufgrund derer Hauptmanns Verhältnis zu Manns Epopoë der untergegangenen bürgerlichen Sanatoriumswelt der Vorkriegszeit stets zwiespältig bleiben sollte?
1933 emigrierte Chapiro – zunächst nach Spanien, 1936 nach Frankreich, 1941 gelang ihm die Flucht in die USA, wo er 1962 in New York starb. Wie er nach dem Zweiten Weltkrieg bezeugte, unterstützte Hauptmann ihn und andere jüdische Freunde in der Anfangszeit der Emigration. Zeitweilig stand ihre Freundschaft vor dem Aus, als Chapiro nach den Angriffen Alfred Kerrs dem empörten Hauptmann zur Mäßigung riet. Doch Hauptmann besann sich – zumindest bezüglich Chapiros, nicht jedoch Kerrs.
Die Briefe der letzten Jahre werden spärlich, sind häufig nur schwer datierbar, und vielfach ist unsicher, ob sie überhaupt abgesandt beziehungsweise erhalten wurden. In seinem vermutlich von 1935 stammenden, definitiv nicht verschickten letzten Schreiben an Chapiro äußert Hauptmann die Hoffnung, dass sie beide in ihren Gesinnungen gegeneinander die gleichen geblieben sein mögen wie einst sowie Überlegungen betreffend seinen eigenen Tod, den er nicht mehr ferne wähnt. Er dankt für alles Gute, das ihm widerfuhr, vernimmt aber auch deutlich das Flügelrauschen der Stymphaliden über den Völkern der Erde – jener Vögel, die ihre stahlharten Flügel wie Geschosse abfeuern konnten und die einst von Herakles größtenteils vernichtet wurden. Chapiro bekundet in seinem letzten Telegramm zu Hauptmanns 74. Geburtstag die erhoffte unveränderte geistige und seelische Verbundenheit.
Dieser Verbundenheit verdankt sich auch das vielzitierte Nachspiel zu ihrem persönlichen und brieflichen Kontakt einige Jahre nach Hauptmanns Tod – ein Ausweis wahrer Freundschaft ebenso wie ein Armutszeugnis für bestimmte Teile der damaligen literarischen Welt: Als im August 1949 in der „Saturday Review of Literature“ wüste Anschuldigungen gegen Hauptmann geäußert wurden, er sei Antisemit gewesen – so behauptete man, er habe Gästen auf seinem Wiesenstein, über deren Religionszugehörigkeit er sich im Unklaren gewesen sei, Schinken vorgesetzt, um im Falle einer Ablehnung definitiv zu wissen, dass es sich um Juden handle – verfasste Chapiro ein umfangreiches Verteidigungsschreiben für den Freund, worin er die Haltlosigkeit der Attacken nachwies. Die Redaktion schickte ihm das Schreiben mit der Bitte zurück, es auf einen Umfang von 250 Worten zu kürzen.
Auf leicht über 250 Seiten hingegen gibt der vorliegende Band dem Leser umfassend Auskunft über eine Freundschaft in dürftiger Zeit. Heinz Dieter Tschörtner, seit Jahrzehnten einer der weltweit anerkanntesten Experten für Hauptmanns Leben und Werk, der unter anderem 1996 eine erstmals um das Gespräch „Juden – ein romantischer Begriff“ ergänzte Neuausgabe der „Gespräche mit Gerhart Hauptmann“ herausgab, hat ihn sorgfältig ediert und kommentiert. Neben dem Briefwechsel Chapiros mit den Eheleuten Hauptmann findet man hier als Ergänzung auch einige Briefe anderer Zeitgenossen sowie Chapiros Verteidigungsschrift für Hauptmann und die dazugehörige Ablehnung der „Saturday Review of Literature“. Dieser Briefwechsel, der dem Leser Hauptmann auf der Höhe seiner öffentlichen Anerkennung zu Zeiten der Weimarer Republik zeigt, aber auch seine schleichende Isolierung in den Anfangsjahren der Zeit des Nationalsozialismus erkennen lässt, beleuchtet nicht allein das gemeinsame Projekt der "Gespräche", sondern bietet überdies einen aussagekräftigen Einblick in das literarische und stellenweise auch politische Leben der 1920er und beginnenden 1930er Jahre.
Gerhart Hauptmann/Joseph Chapiro: Briefwechsel. 1920 - 1936.
Herausgegeben von Heinz Dieter Tschörtner.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
255 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN 3-8353-0032-6
Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten von http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10131 übernommen. Für die Neuveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet.