Søren Kierkegaards "Tagebuch des Verführers" in einer Neuauflage
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Muß man als Rezensent anläßlich jeder beliebigen Neuauflage eines bedeutenden Werks das Rad und die Glühbirne gleich neu erfinden? Ist man dazu genötigt, über die allein der Gedächtnisauffrischung dienende Wiederholung im Grunde genommen vorauszusetzender Fakten bezüglich eines großen Namens hinaus in jedem Falle auch eigenständige essayistische Glanzlichter zu setzen? Auch der Leser einer Rezension will erobert werden, und eine Besprechung nach dem Muster "Verlag X hat eine Neuauflage des Buches Y von Autor Z herausgebracht, und das ist gut so" ließe nicht nur die Kreativität des Rezensenten in einem sehr bedenklichen Licht erscheinen, sondern könnte auch eine baldige Bankrotterklärung des Mediums Literaturkritik andeuten.
Gleichwohl läßt sich in manchen Fällen bisweilen nicht allzu viel sagen - aber das muß nichts Schlechtes besagen! Bei Artemis & Winkler ist eine solche Neuausgabe von Søren Kierkegaards "Tagebuch des Verführers" erschienen, ein Nachdruck einer dtv-Ausgabe aus den 60er Jahren, lediglich um ein kurzes Essay von John Updike ergänzt, welches hier als Nachwort dient - in der Princeton University Press Ausgabe des "Seducer's Diary" von 1997 fungiert der Text des langjährigen Literaturnobelpreisaspiranten kurioserweise als Vorwort. Nun denn. Offenbar gab es keine Einwände gegen die alte Übersetzung und den alten Kommentarteil, weshalb sich die Aktualisierungen auf Updikes Erörterungen beschränken.
Ähnlich wie Arthur Schopenhauer zählt man auch Søren Kierkegaard zu jenem hauptsächlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich herausbildenden Philosophentypus, dessen Werke ihrer Anlage wegen vor allem den literarisch interessierten Leser ansprechen. Rühmt man den Weltweisen aus Danzig vorrangig als glänzenden Stilisten, so sticht bei seinem Kopenhagener Kollegen eher das erzählerische Element hervor. In immer neuen Anläufen deutete er Erzählungen der Bibel oder des griechischen Mythos - beispielsweise die Geschichten von Isaak oder Antigone - neu, indem er sie neu erzählte, mit jeder weiteren Wiedergabe unerwartete Facetten des überlieferten Geschehens beleuchtete und somit aus all seinen Nacherzählungen höchst unterschiedliche, aber auf ihre Weise mustergültige Interpretationen der alten Stoffe schuf, die ihrerseits bis in die Gegenwart fortwirken.
Systemphilosophie lag ihm nicht; als Schüler des Sokrates war es ihm eher darum zu tun, maieutisch, also: als Geburtshelfer tätig zu sein, den Leser dazu zu bringen, sich aufgrund der vielen suggestiven Fragen, die ihm der Autor stellte, eigene Gedanken zu machen, selber zu denken und von sich aus Fragen zu stellen, die, an andere gerichtet, eine ähnliche Wirkung zeitigten. Bei dieser durchaus spielerisch zu nennenden Haltung verwundert es nicht, daß Kierkegaard auch das Spiel mit den literarischen Formen schätzte. Wiewohl in vielerlei Hinsicht von der Geisteswelt der Romantik geschieden, lernte er doch bei ihr die Vorliebe für das Fragmentarische, Labyrinthische und Vexatorische kennen und umzusetzen.
Sein erstes Hauptwerk "Entweder - Oder. Ein Lebensfragment, herausgegeben von Victor Eremita" von 1843, dokumentiert dies auf eindrucksvolle Weise. Kierkegaard bedient sich hier mehrerlei Arten von Herausgeberfiktionen und maskiert sich als Autor mit mehreren Figuren, die er in diesem zweibändigen Unikum von einem philosophischen Text auf die Bühne beziehungsweise die Beine stellt. Wie magisch fühlte sich der vorgebliche Herausgeber Victor Eremita in einem Antiquitätenladen zu einem Schreibtisch hingezogen, dessen eingehende Untersuchung einige Zeit nach dem Kauf ein Geheimfach zutage förderte, das eine umfangreiche Sammlung von Schriften zweier vom Herausgeber der Einfachheit halber A und B benannter Autoren verborgen hielt - des sich selbst so bezeichnenden "Ästheten" A, eines zur Zeit der Niederschrift offenkundig noch jungen Mannes, sowie des "Ethikers" B, eines älteren Herrn und pensionierten Gerichtsrats, der eigentlich Wilhelm hieß.
Nahezu überflüssig zu sagen, daß A und B Selbstbildnisse des Autors darstellen, der in sich zeitlebens den Kampf zwischen der ethischen und der ästhetischen Existenz ausfocht, sich in der Literatur aber elegant von sich selbst zu distanzieren und dergestalt Grundlagen zur Selbstanalyse wie zur Analyse anderer zu schaffen vermochte. Beide Autoren schrieben somit Werke, unter die Kierkegaard gewiss bedenkenlos auch seinen bürgerlichen Namen gesetzt hätte, hätte ihm der Sinn danach gestanden. Aber Kierkegaard war es hier nun einmal um die Eigengesetzlichkeit des literarischen Versteckspiels zu tun.
A und B sind Freunde. B spielt hierbei die Rolle des sokratischen Mentors. Seine Schriften sind ausnahmslos Briefe an A, worin er sich über die Ehe, über Gott, die Freiheit und den Gegensatz von Ethik und Ästhetik äußert. Der rein ästhetische Mensch sei im Grunde noch unfrei, da es ihm nur um Sinnenbefriedigung ginge, und auf dieser Ebene müsse letztlich jeder Mensch von Beginn an als Ästhetiker verstanden werden. Der ethische Charakter hingegen habe nicht allein das bloße Genußstreben im Auge; er bemühe sich vielmehr darum, seine Freiheit durch die Entscheidung für ein verantwortungsvolles Handeln zu bekräftigen und nach selbstgesetzten sittlichen Maßstäben zu agieren, die ihre Rechtfertigung daraus bezögen, daß sie ein freier Mensch aufgrund seines Verstandes entdeckt und begriffen habe.
A schreibt über Liebesglück und Liebesleid, Glücklichsein und Unglücklichsein, über antikes und modernes Tragikverständnis (hier sind übrigens die schon erwähnten Ausführungen zur Antigoneproblematik zu finden), über das Musikalisch-Erotische, primär am Beispiel des Mozartschen "Don Juan" erläutert, oder, wie man nach Dieter Borchmeyer korrekterweise sagen müsste, der seit dem 19. Jahrhundert geläufigen "Don Juan"-Projektion, und über Frauengestalten Shakespeares, Goethes und des heute eher zu den Vorläufern späterer Boulevarddramatik gerechneten Eugène Scribe - Kierkegaard ging es um die Sache, nicht um bildungsbürgerliche Skrupel. A verfaßt zudem die aphoristischen Meisterwerke der Diapsalmata - und gibt ebenfalls ein Manuskript heraus: das "Tagebuch des Verführers".
Hierbei handelt es sich um die Aufzeichnungen seines Bekannten Johannes, der einst ein eigenartiges Experiment unternahm: Um sich am allmählichen Werden ihrer Liebe zu ergötzen, brachte er ein junges Mädchen, Cordelia genannt (A versichert uns, daß sie tatsächlich so geheißen, allerdings einen anderen Nachnamen als den in Johannes' Aufzeichnungen verwendeten getragen habe), dazu, sich in ihn zu verlieben. Ihrer überdrüssig geworden, beeinflusst er sie auf subtile Weise dahingehend, die Verbindung zu ihm aufzugeben und zu denken, sie habe dies aus freien Stücken getan.
Inspiration dieser merkwürdigen Geschichte, die immer wieder separat publiziert wurde, war Kierkegaards eigenes, höchst widersprüchliches Liebesverhältnis zur zehn Jahre jüngeren Regine Olsen, mit der er etwas über ein Jahr verlobt war, bis er die Verlobung löste, da er fürchtete, daß sie mit ihm nur unglücklich werden würde. Er versuchte, ihren Schmerz möglichst gering zu halten, betonte von Anfang an, daß er allein die Schuld an ihrer Trennung trage, und versuchte nicht zuletzt durch das "Tagebuch des Verführers", sich selbst als Schurken darzustellen. "Er mußte Regine durch die Auflösung der Verlobung unglücklich machen, weil dies seine einzige Hoffnung war, sie glücklich zu machen", deutete Peter Szondi in seinem "Versuch über das Tragische" die Motivation Kierkegaards.
Obgleich er sich in seinen Tagebüchern über das weibliche Geschlecht bisweilen ebenso herablassend wie sein Johannes äußerte, sollte ihm Regine doch als ein Idealbild ein Leben lang erhalten bleiben und ihn bis zuletzt beschäftigen. Mit dem "Tagebuch des Verführers" hatte er sie bereits zu Lebzeiten unsterblich gemacht und eine erzählerische Meisterleistung vollbracht, die die Tragödie eines Menschen offenbart, der vor der Liebe flüchtete, ohne ihr je ganz entkommen zu können - doch wer könnte das schon? Fazit: Nach wie vor ein idealer Einstieg in Leben und Werk des Vaters der Existenzphilosophie.
Sören Kierkegaard: Tagebuch des Verführers.
Übersetzt aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2004.
200 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN 3538069808
Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten von http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10689 übernommen. Für die Neuveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet.