Horst Nalewski erleichtert kleinen und großen Kindern den Zugang zu Rainer Maria Rilke
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Rilke für Kinder – geht das? Mancher mag seine Bedenken hegen und an Joachim Kaisers Bonmot gegenüber Walter Maria Guggenheimer erinnern, als dieser den jungen Kollegen darauf hinwies, daß dessen Besprechung von Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ vielleicht doch etwas zu kompliziert ausgefallen sei: es wäre ohne weiteres möglich, über Hegel so zu schreiben, daß es auch Vierjährige verstünden; worauf sich jedoch die Frage stellte, ob man dann überhaupt noch über Hegel schriebe. Andererseits sollte man annehmen, daß, wer Hegel, Rilke oder andere wahrhaft verstanden habe, diese auch Kindern ohne unnötige Simplifikationen verständlich zu machen vermöchte.
Im Hause Bertuch hat man 2005 eine Reihe „Bertuchs Weltliteratur für junge Leser“ gestartet, welche, der Titel legt die Annahme nahe, jungen Lesern die Welt der Literatur nahe zu bringen angetan sein möge, in offensichtlichem Mißtrauen den eigenen Intentionen gegenüber aber auf dem Klappentext des ersten, Rilke gewidmeten Bandes, eine Altersfreigabe „für junge Leser ab 15 Jahren“ empfohlen, ergänzt durch den Hinweis, das Buch sei „aber nicht nur für sie“ gedacht – der Verdacht drängt sich auf, daß man hier eher auf ältere denn jüngere potentielle Rilkerezipienten schiele.
Wie auch immer – wenn es einen Kenner des Rilkeschen Oeuvres gibt, der Kindern jedweden Alters das Werk dessen, dem Robert Musil bescheinigte, er habe das deutsche Gedicht schlichtweg zur Vollkommenheit geführt, ohne größere Schwierigkeiten verständlich zu machen in der Lage sein dürfte, dann ist dies gewiß Horst Nalewski, Mitherausgeber der großen vierbändigen kommentierten Werkausgabe Rilkes im Insel-Verlag aus den 1990er Jahren, Betreuer verschiedener spezieller Rilkeeditionen und schon in jungen Jahren Verfasser einer Rilkemonographie für das Leipziger Bibliographische Institut in der damaligen DDR.
Sinnigerweise trägt sein Einführungsband den im Einklang mit den Vorgaben der Reihe befindlichen Untertitel „Der schwere Weg zum großen Dichter“ – ein Titel wie „Rilke leicht gemacht“ hätte gewiß allzu salopp angemutet; allerdings hat sich der Autor somit die zusätzliche Arbeit aufgebürdet, seinen Lesern die auf diese Weise induzierte Furcht vor ebendiesem vermeintlich Schwerem, das die Beschäftigung mit dem Werk Rilkes eben so mit sich brächte, bei jeder Gelegenheit wieder nehmen zu müssen. Bereits in der Einleitung, und dann hin und wieder im Verlauf des Buches, unterfängt sich der Autor immer wieder, nachgerade entschuldigend auf die Schwierigkeit vieler zitierter Textstellen hinzuweisen.
Eine besondere Notwendigkeit hierfür läßt sich nicht ausmachen. Nalewski versteht es problemlos, komplizierte Sachverhalte im Zusammenhang mit Leben und Werk Rainer Maria Rilkes eingängig darzulegen, ohne zu sinnentstellenden oder gar verfälschende Vereinfachungen Zuflucht zu suchen, ohne sich in selbstgenügsamem Wissenschaftsjargon zu ergehen und ohne der weitverbreiteten Anbiederungstendenz zu frönen, die Klassiker "vom Sockel" holen zu wollen.
„Wenn wir nicht aufdringlich, mit dem Recht des Stärkeren, den Kindern all das Fertige in den Weg stellen, das für unser Leben gilt, wenn sie nichts vorfinden, wenn sie alles machen müssen: werden sie nicht alles machen?“ – dieses von Nalewski besonders hervorgehobene Briefzitat Rilkes könnte auch als Motto über seinem Einführungsband stehen. Er stellt den Anfängern in Sachen Rilke nichts Fertiges in den Weg, das ihnen den Weg eventuell auch versperren könnte – wohl aber stellt er ihnen das notwendige Rüstzeug für ihre Reise zu Rilke zur Verfügung.
Das Hauptaugenmerk des Verfassers liegt hierbei auf Rilkes ersten dreißig Lebensjahren und dem ersten Jahrzehnt seiner Autorschaft, als er ein Frühwerk schuf, das seine späteren Hervorbringungen zwar quantitativ in den Schatten stellte, qualitativ aber lediglich in raren Momenten mit diesen konkurrieren konnte - rare Momente, die indes Ruhm und Erfolg des Autors Rilke begründen sollten. Es geht Nalewski darum, aufzuzeigen, inwiefern sich anhand des Lebensweges und der Werkentwicklung des jungen Rilke erst allmählich die Konturen eines Dichters von epochaler Statur zu proportionieren begannen.
Neben Gedichtbeispielen vom "Larenopfer" bis zum "Stunden-Buch" und verschiedenem aus den Briefen werden dem Leser hier vor allem einige markante, dabei jedoch recht kurze und überschaubare Texte aus dem Frühwerk Rilkes in voller Länge dargeboten - die "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke", die "Turnstunde", die "Geschichten vom lieben Gott", die zweite und endgültige Fassung des "Drachentöters" und der "Samskola"-Aufsatz. So ist es Nalewski gelungen, nicht nur möglichst viele Informationen über Rilke zu transportieren, sondern dem Einsteiger auch verschiedene Möglichkeiten für erste Leseerfahrungen mit Rilke zu erschließen.
Rilkes weiterer Lebensweg und seine spätere Werkentwicklung werden in einem kurzen Ausblick gegen Ende des Bandes prägnant angedeutet; eine ausführliche Zeittafel komplettiert das Informationspaket. Sehen wir von seinen völlig überflüßigen Beschwichtigungsbemühungen bezüglich des Schweren und Schwierigen ab, muß man Horst Nalewski konstatieren, mit diesem Buch eine ideale Lösung gefunden zu haben, den schweren Weg zum großen Dichter Rilke zwar nicht weniger schwer, aber entschieden weniger beschwerlich zu gestalten.
Horst Nalewski: Kennst Du Rainer Maria Rilke?
Bertuch Verlag GmbH, Weimar 2005
104 Seiten, 12,80 EUR
ISBN 3937601252
ISBN-13 9783937601250
Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten von http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11356 übernommen. Für die Neuveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet.