Esther Kinsky, AM KALTEN HANG, viag‘ invernal;  bei Matthes & Seitz, Berlin 2016

Thomas Adamczak

Wiesbaden (Weltexpresso) „Wie ging es noch zu“, „Ein licht tanzt freundlich vor mir her“. So heißen  zwei der Gedichte aus dem Lyrikband von Esther Kinsky, die für ihr schriftstellerisches Werk 2016  mit dem Kranichsteiner Literaturpreis  und dem Chamisso-Preis ausgezeichnet wurde.

Ein staunenswertes Bändchen mit etwas mehr als zwanzig Gedichten.

Für Ulla Hahn müssen Gedichte zum Staunen, Sich-Wundern einladen, sie müssen Überraschungen bieten und die Wirklichkeit verwandeln. Gemessen an diesen Imperativen ist Esther Kinsky ein bemerkenswertes Büchlein gelungen.

Unter allen Gedichten findet sich am unteren Rand jeder Seite in Miniaturschrift eine fortlaufende »lyrische Tonspur« (Iain Galbraith), die auf den ersten Blick verwundert.
Leser und Leserinnen fragen sich: Wie verhalten sich die in Fließtext (vier Zeilen pro Seite, auf den letzten beiden Seiten drei  bzw. zwei Zeilen) aneinandergereihten lyrischen Assoziationen zu den darüber stehenden Gedichten, die übrigens samt und sonders ohne Titel auskommen.

Im Inhaltsverzeichnis wird lediglich der erste Vers jedes Gedichts aufgeführt. Z.B.: »Spätfröste«, »Gestern noch«, »ES HIESS«, »Geborstener weinstock«, »sieh da sieh da ein engel«.

Wie liest man üblicherweise ein Buch mit Gedichten?

Die Leserin hat alle Freiheiten, die sie sich wünscht: Rumblättern, sich hier und da mal fest lesen, das Buch wahllos aufschlagen, flüchtige Lesereindrücke sammeln und das Buch wieder zuklappen oder aber dabei bleiben, ein bestimmtes Gedicht sorgfältig lesen, vielleicht sogar laut, es auf sich wirken lassen, es noch einmal lesen und noch einmal.

Von Sarah Kirsch stammt die Leser*innen aufwertende Feststellung, ihre Gedichte seien nur zu zwei Dritteln ihr. Das restliche Drittel sei Sache des Lesers, an dem sei es, etwas aus dem »Halbzeug« (Sarah Kirsch) zu machen.

Zeit muss er sich schon lassen, der Leser, sonst kann kein einziges Gedicht seinen besonderen Reiz entfalten, nur dann wird aus dem »Halbzeug« etwas Ganzes.

Das ist bei Kinskys Lyrikband sogar in besonderer Weise so. Das Buch lädt zu einer mindestens dreifachen Lektüre ein: Die Gedichte an sich, die Leserin oder Leser einzeln auf sich wirken lassen können, außerdem die zunächst verblüffende, dann faszinierende »lyrische Tonspur« am unteren Rand der Seiten und schließlich, doch dafür braucht es eine gehörige Portion Muße, kann Leser*in versuchen, die Gedichte mit dieser »Art mikrotextueller Italienischer Reise« in dem Prosatext, die sich »als Wanderung >durchs Gebirge< in eine >Fremdnis< erweist«(Iain Galbraith), in Beziehung zu setzen und so Korrespondenzen zu entdecken.

Lyrik reagiert auf Wirklichkeit, indem Autorinnen und Autoren ihre innere Wirklichkeit aktivieren. Sie verhelfen quasi dem inneren Erlebnisraum zu einem ästhetischen Ausdruck.

»was hat die landschaft zu sagen im vorüberzucken von schmutz und verwischten spuren : städte der unlesbarkeit betten sich in unwirtliche mulden: wollen nicht einmal winken mit ihren unbeholfenen fahnen die sich auf keine sprache verstehn: nichts hat sie zu sagen die säumende landschaft«.

Die Natur  spricht nicht selbst. Doch eine Autorin wie Esther  Kinsky versteht es, für ihr inneres Erleben eine poetische Sprache zu kreieren und dadurch den eigenen Erlebnisraum zum Klingen zu bringen. Dann ist sie zu vernehmen, die Natur. Und wie!

Kinskys assoziative Technik in der »lyrischen Tonspur« ermutigt Leser*innen, die eigenen Assoziationen zuzulassen, vielleicht gar fließen zu lassen.

»vom wandern abgekommen spürt man doch noch den zweierleiwind der sich an spitzen steinen gespalten hat«. » zweierleiwind« - was‘ne feine Wortneuschöpfung!

Derlei sprachliche Originalität finden sich in dem Band zuhauf. »es dunkelt es dunkelt weiter auf fahrt durch ein schläferland«. Doch es gibt auch die »wachbleiber auf ihrer art wanderschaft«, zu denen zweifelsfrei die Autorin gehört, die die Jetztzeit mit ihrer Vergangenheit in Verbindung bringt: »ein korn rauhreif ruft trocken aus der kindheit«.

Die Fahrt geht von der Elbe nach Süden, durch das Gebirge: »willkommen im tunnel :  wegschläuche durch die felsen feucht hallt es von gesprenkelten wänden die sich mal ganz gehörten«.

So singt es, wenn eine Lyrikerin es unternimmt, eine Autofahrt nach Italien - oder fährt sie mit dem Zug? - in lyriknaher  Prosa zu gestalten.
»So eilt es sich durchs gebirge : fremdler die augen beschirmend  stets auf ausschau nach dem offnen nach weite nach horizont zwischen wald und höhen«. »wann weichen die berge : wann versickert der Schnee : wann stumpft sich das eis ab«.

Angekommen in Friaul entdeckt die Autorin die Faszination der Ebene: »die ebene liegt rot und blau und lila bis braun ohne kaltes in allen farben«. »kälte ist im gebirge geblieben«. Das Gebirge steht in der »ferne als ginge die welt dort zu ende und sieht doch traurig aus«. Hier aber »schönflaches land als gäbe es keine steilheit auf der welt«.

In der »lyrischen Tonspur« wimmelt es an sprachlichen Kostbarkeiten. Lyrik ist Ergebnis lustbetonten Spiels mit Sprache. Das demonstriert die Autoren eindrucksvoll.

Die einzelnen Gedichte enthalten im Kontrast zum Fließtext, wie kaum anders zu erwarten, abgeschlossene Sinneinheiten. Ein Gedicht sei an dieser Stelle beispielhaft zitiert:

»Kinder gehen mit stöcken und schlagen
erfrorene  Zeisige aus dem Gezweig
so geht es im winter sagt sich so doch
welche weisheit haben wir nun
da es kein wort gibt für dieses
dünne zerschellen und bersten der
eis gewordenen körper auftreffend auf
anderes eis?

Ratlos stehen die kinder am rand des gehölzes
und blicken ins weite.«

Die Autorin hat eine Szene beobachtet, und diese Szene hält sie in dem Gedicht fest. Es  schmerzt sie förmlich, dass es »kein wort gibt für dieses dünne zerschellen und bersten der eisgewordenen körper«.  Sie sucht vergeblich danach, findet schließlich ein Bild, welches das Geschehen und ihr eigenes Erleben verstehbar werden lässt. Die Kinder stehen »ratlos und blicken ins weite«.

So, ein wenig „ratlos“, können sich anfänglich auch Leser*innen fühlen, die sich auf Kinskys lyrische Experimente einlassen.

Die durchgängig auf der linken Seite – auf der rechten befinden sich die Gedichte – abgedruckten Illustrationen von Christian Thanhäuser  erinnern bei gutem Willen an Rorschachtests. Lässt man sich auf diese hinreichend ein, purzelt eine Flut von Assoziationen, die die Lektüre der Gedichte bereichern kann.

Der Autorin ist zu wünschen, dass möglichst viele Leser*innen sich nicht entmutigen lassen, sondern sich ein wenig Zeit nehmen, den Reiz dieses Lyrikbandes  zu entdecken und dann anders als „ratlos“ „ins weite blicken“.  

 

Foto: Die Autorin (c) Matthes & Seitz

Info:
Esther Kinsky, AM KALTEN HANG, viag‘ invernal, Berlin 2016, Matthes & Seitz
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!