KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für September 2016, Teil 1
 
Elisabeth Römer

Hamburg (Weltexpresso) – Nein, den ersten Platz, auf den Donald Ray Pollock mit DIE HIMMLISCHE TAFEL vom zehnten Platz im August im September geflogen ist, diesen Krimi haben wir noch nicht gelesen und müssen den begeisterten Kollegen glauben, die wir gleich zitieren.


Aber den neuen Giancarlo de Cataldo, den dieser wieder mit Carlo Bonini schrieb, DIE NACHT VON ROM, von dem haben wir gerade gestern die letzten Seiten gelesen, denn da waren wir uns ziemlich sicher, daß de Cataldo/Bonini es erneut auf Anhieb auf die KrimiBestenListe schaffen. Davon gleich. Erst einmal also den Spitzenreiter rühmen, DIE HIMMLISCHE TAFEL von Donald Ray Pollock, erschienen bei Liebeskind, von dem der Jurysprecher Tobias Gohlis sagt: „Auf der Welle hervorragender amerikanischer Romane, die die gewalttätige Vergangenheit der USA thematisieren, schwimmt Pollocks HIMMLISCHE TAFEL in jeder Hinsicht oben: Witzig, tiefgründig, anspielungsreich, mehrdeutig und erbarmungslos, wie das Leben in Armut, Bigotterie und Unbildung, das er darstellt. Amerika kurz vor Eintritt in den Ersten Weltkrieg: Kaum jemand weiß, wo dieses Deutschland überhaupt liegt, aber Krauts oder solche, deren Namen nur nach Kraut klingen, werden zusammengeschlagen und müssen echten Amerikanern die Stiefel lecken.“

Er führt dann noch weiter aus, daß es eigentlich eine erschütternde und komische Sammlung von Porträts ist, die alle den Zeiten der Depression in Amerika entstammen, von Armen, Geschundenen, Verratenen, Spinnern und Mördern. Demnächst also mehr.

SUBURRA hieß der erfolgreiche Vorgänger des Autorengespanns de Cataldo/Bonini, der literarisch vorwegnahm, was dann in der römischen Wirklichkeit passierte. Daß der Mafia capitale der öffentliche Prozeß gemacht wurde, von dem aber alle ahnen, daß, wenn der Schlange das Haupt abgeschlagen wird, viele Köpfe nachwachsen. Mehrere der Köpfe können wir im neuen Thriller anschauen, der eigenständig ist, aber aus dem römischen Sumpf stammt, daß es nur so stinkt. Da ist der König von Rom, Samurai geannt und ein übler Faschist dazu, nun im Gefängnis, aber seine Geschäfte werden von den Handlangern gemacht. Eigentlich hat er Sebastiano Laurenti beauftragt, der mit edler Statur was hermacht, aber oft unentschlossen scheint, was er wirklich will. Das dagegen weiß ganz genau Fabio Desideri, der soziale Aufsteiger, wie er im Buche steht, oder doch besser auf der Straße sein Unwesen treibt. Sie alle drei werden im Personenregister, dem Roman vorgeschaltet, als DIE AUS DER ZWISCHENWELT charakterisiert. Dann gibt es bei den handelnden Personen DIE AUS DEN PALÄSTEN und DIE VON DER STRASSE, also eine dichotomische Gesellschaft, wobei der CHOR alles rahmt, denn dort sind eiskalte Albaner, schlaue Anwälte sowie unbeschwerte Demokraten, überhebliche Politiker und noch so manches Gewächs versammelt, die dieses Sittenbild über das Rom von heute bunter machen, denn eigentlich ist es ein düsteres Sittengemälde in Schwarz in Schwarz.

Was ist aus der Ewigen Stadt geworden? Das fragt sich auch – ganz aktuell – Papst Franziskus. Aber Rom ist ja nur die eine Stadt, es geht um die ganze darniederliegende Welt. Und für deren Rettung hat der Papst das Heilige Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen. Das muß organisiert werden. Und da sind gewaltige Summen im Spiel, denn natürlich muß gebaut werden und die seit Jahren, ja Jahrzehnten lahmliegenden Großbaustellen von U-Bahnen und Großanlagen endlich vollendet werden. Nur womit, wenn das vorhandene Geld unter denen aufgeteilt wird, die zwischen Zwischenwelt und Chor ihre Sümmchen verdienen, wobei die von der Straße ja auch versorgt sein wollen.

Um Liebe geht es auch. Um Liebe oder um Begehren, bzw. die Genugtuung, von einer schönen Frau beachtet zu werden, sich mit ihr öffentlich zeigen zu dürften? Ach nein, diese Reißbrettfrau, die Parteiaufsteigerin Chiara Visone muß unter all den Männern einfach zu viele Begierden befriedigen. Da haben die beiden Autoren den mindestens 15 namentlich bekannten Männern mit der einen Frau etwas angetan, will sagen: umgekehrt. Die wird nun als eine so kalte, so erfolgreiche Politikerin geschildert, die alle in den Sack steckt, obwohl sie keinen hat, sozusagen. Das wurde uns zu dolle.

Aber man liest und liest und will einfach wissen, wer gewinnt und wer verliert in diesem Spiel, das ja kein Spiel ist, sondern gesellschaftliches Leben in Rom schildert, unter Bedingungen derer, denen nur ihr privater Gewinn wichtig ist und die Belange der Menschen, einschließlich der Müllprobleme, die man sonst nur von Neapel her stinken roch. Es stinkt wirklich gewaltig gegen den Himmel eines Gottes, der doch in Rom seinen Stellvertreter auf Erden sitzen hat.

Fortsetzung folgt



Die KrimiZEIT-Bestenliste September 2016

 

 

 

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(10)

Donald Ray Pollock: Die himmlische Tafel

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Liebeskind, 432 S., 22,00 €

Georgia, Ohio 1917. Cane, Cob und Chimney Jewett haben genug von Mehl-Wasser-Klumpen und Schwerstarbeit. Als Outlaws gejagt, landen die Jungens auf der Flucht nach Kanada in Ross County. Armut, Gewalt, Fanatismus und Heuchelei – Vierklang des weißen Amerika. Rauer Realismus, mit winzigem Lichtstreif. Great.

2

2

(-)

Giancarlo de Cataldo/Carlo Bonini: Die Nacht von Rom

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

Folio, 320 S., 24,00 €

Rom. Papst Franziskus hat ein Heiliges Jahr ausgerufen. Kleriker, Immobilienhaie, Politiker, Bauunternehmer krabbeln wie Küchenschaben: Profit, Macht, Schwindel sind zu haben. Im Background der Kampf zweier Mafiosi um eine Frau und um Rom. Mafia capitale, zweiter Akt, famos illuminiert von zwei Insidern.

3

3

(3)

James Grady: Die letzten Tage des Condor

Aus dem Englischen von Zoë Beck

Suhrkamp, 368 S., 14,99 €

Washington, D.C. Vor 40 Jahren ein Bestseller: „Die 6 Tage des Condor.“ Jetzt ist Condor alt. Ein Agent hängt gekreuzigt am Kamin. Wieder Flucht, wieder im Irrwitz-Paranoia-Dschungel der US-Geheimdienste. „Ich bin zu alt für diesen Scheiß.“ - „Dem Scheiß ist es egal, wie alt du bist.“ Verkehrte Welt, große Literatur.

4

4

(7)

Patrícia Melo: Trügerisches Licht

Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita

Tropen, 320 S., 14,95 €

São Paulo. TV-Star Fábbio Cássio spielt im echten Theater. Hauprolle in einem Suizid-Drama. Und schießt sich auf der Bühne tot. Unfall, Selbstmord, Mord? Kriminalistin Azucena im Polit- und Verdächtigtenstrudel der Ermittlungen. Wer war’s? Sein und Schein – Hauptsache, Geld. „Brasiliens Nationalformel: +1 – 1 = 0.“

4

5

(1)

Max Annas: Die Mauer

Rowohlt, 224 S. 12,00 €

East London, Südafrika. Als sein Auto streikt, sucht Student Moses Hilfe in einer weißen Gated Community. Wachleute pöbeln, er haut ab. Doch wie rauskommen aus dem Mittelstandsghetto? Private Security, Polizei, ein Diebespaar: Ein Hexenkessel aus Verfolgungswahn und Rassenhass. Groteske hoch zehn, Action auf den Punkt.

6

6

(-)

Friedrich Ani: Nackter Mann, der brennt

Suhrkamp, 223 S., 20,00 €

Heiligsheim“. Das Opfer ist unerkannt zurück im Dorf. Ludwig Dragomir war einer der Jungen, die in den Wald hinterm Koglfeld mitgenommen wurden. Jetzt stellt er die Herren von damals mit seiner Scham. Ein Icherzähler mit zerstörtem Ich, sein Ziel: Vernichtung. Gratwanderung im Seelenland der Missbrauchsopfer.

7

7

(-)

Eoin McNamee: Blau ist die Nacht

Aus dem Englischen von Gregor Runge

dtv, 272 S., 16,90 €

Nordirland 1949 – 1963. Drei ungesühnte Morde – verknüpft mit einem Mann: Richter Lancelot Curran. Reale Fälle aus einer kaum zurückliegenden dunklen Zeit. Im grandiosen letzten Band seiner „Blue-Trilogie“ verzwirbelt McNamee die Stränge noch einmal neu. Wahnsinn, Heuchelei, Machtkämpfe. Drei Frauen tot – unaufgeklärt.

8

8

(6)

Jesper Stein: Bedrängnis

Aus dem Dänischen von Patrick Zöller

KiWi, 384 S., 12,99 €

Kopenhagen. Axel Steen, bester Mordermittler in town, auf dem Weg nach unten. Braucht Koks, Frauen, Liebe. Ein prima Opfer für Drogenboss Moussa, der ihn als Spitzel einsetzt und als Waffe im Bandenkrieg. Die Einsamkeit des Bullen, der nicht aufgeben kann: umstellt, verlassen, manipuliert von den eigenen Leuten.

9

9

(-)

 

Iain Levison: Gedankenjäger

Aus dem Englischen von Walter Goidinger

Deuticke, 304 S., 19,00 €

USA. Eines Tages kann Streifenpolizist Snowe Gedanken lesen. Seine Erklärungssuche im Netz lockt den Geheimdienst an. Auch Polizistenmörder Denny ist „online“. Gedankenlesen verbindet. Und hilft, Lügen zu durchschauen. Aber nicht alle mögen das. Rasantes Gedankenspiel, ganz hart neben der Realität.

10

10

(2)

 

Denise Mina: Die tote Stunde

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer

Heyne, 448 S., 9,99 €

Glasgow. Paddy Meehan ist jung, pummelig, arm, aber nicht doof. Reporterin in der Nachtschicht, Lokales. Eleganter Mann prügelt junge Frau. Polizei guckt weg, kommt vor. Paddy soll, aber hält nicht die Klappe, pult in den Gedärmen der Stadt. Jounalistin mit Angst und noch mehr Mut. Verzwickt, schlicht großartig.

 

 


INFO:
 
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
 

Die KrimiZEIT-Bestenliste September wird am 1. 9. 2016 in der Wochenzeitung DIE ZEIT, auf ZEITonline unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste und im Nordwestradio veröffentlicht, am Donnerstag, den 1.9.2016 gegen 9.20 live mit Tobias Gohlis und in den Sendungen der „Buchpiloten“, nachzuhören unter

www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/bestenliste100.html

 

Monatlich wählen einundzwanzig auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt inzwischen über 1800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
 
 
Die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste auf dem aktuellen Stand:
 
Tobias Gohlis, Kolumnist DIE ZEIT, DeKrPr*, Moderator und Jury- Sprecher der Krimiwelt
Volker Albers, Hamburger Abendblatt, DeKrPr*
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR, DeKrPr*
Gunter Blank, Sonntagszeitung Zürich
Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, SWR
Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Lore Kleinert, Radio Bremen
Elmar Krekeler, Die Welt
Kolja Mensing, Dradio Kultur
Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR, DeKrPr*
Jan Christian Schmidt, www.Kaliber 38.de, DeKrPr*
Margarete v. Schwarzkopf, Freie Literaturkritikerin
Ingeborg Sperl, Der Standard - Wien
Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau, DeKrPr*
Jochen Vogt, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Plärrer, culturmag, Dradio Kultur, Penser Pulp bei Diaphanes, DeKrPr*
 
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie in der RUBRIK BÜCHER auf dem Titel oder unter dem Autorennamen im Archiv finden.

Das Prozedere der Platzverteilung  für die Liste ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die jeweils Ende Dezember herauskommt und die wir für 2015 hier ebenfalls kommentierten.

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6227:die-jahresbestenliste&catid=78:buecher&Itemid=470

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6228:vier-der-besten-haben-frauen-geschrieben&catid=78:buecher&Itemid=470