Reiner Abenstein bringt die griechische Mythologie in kompakte Form

Alexander Martin Pfleger

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Reiner Abensteins 2005 in der UTB-Reihe „Kultur Kompakt“ erstmals erschienenes Einführungswerk in die griechische Mythologie liegt mittlerweile in einer vierten, „aktualisierten“ Ausgabe vor. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, daß die vereinzelten gestalterischen Mängel beibehalten wurden, aber eben auch die unleugbaren Qualitäten nicht verlorengingen – Grund genug, noch einmal darauf zu verweisen.


Daß Odysseus sich wahnsinnig stellte, um nicht am Feldzug gegen Troja teilnehmen zu müssen, dann aber von seinem Intimfeind Palamedes der Simulation überführt wurde, was dieser zu einem späteren Zeitpunkt infolge einer Rufmordkampagne des Laërtiaden mit dem Leben bezahlen sollte, ist allgemein bekannt. Weniger bekannt dürfte sein, daß Odysseus selbst einen der entscheidenden Grundsteine für die Teilnahme nahezu sämtlicher griechischer Fürstenhäuser am Kampf gegen Ilion gelegt hatte: Als nämlich Menelaos und einige andere Helden um die schöne Helene warben, bewegte sie der Held von Ithaka dazu, einen Eid zu leisten, sich niemals gegen denjenigen zu wenden, den die Tochter des Zeus und der Leda erwählen würde, sondern dem Glücklichen bei eventuell eintretenden späteren Unglücksfällen tatkräftig zur Seite zu stehen. Und bekanntlich kam es dann ja auch dazu.

Daß Zeus, um seinen Vater Kronos zu stürzen, die Hilfe der hundertarmigen Brüder Briareos, Gy(g)es und Kottos, auch Hekatoncheiren genannt, und der Einäugigen Brontes, Steropes und Arges (Argos), auch als Kyklopen bekannt, benötigte, dürfte auch noch einigermaßen erinnerlich sein; kaum aber, daß Zeus die Befreiung dieser seiner Helfer nur durch die Überwindung ihres Bewachers zu bewerkstelligen vermochte, eines Ungeheuers namens Kampé, welches man sich als überdimensionierte Raupe vorstellen muß.

Diese und noch viele weitere, kaum geläufige Verästelungen der klassischen Sagen Griechenlands sowie bündige Zusammenfassungen der großen und allseits geläufigen antiken Mythen findet man in Reiner Abensteins Band "Griechische Mythologie" in der Tat kompakt präsentiert, wie der Reihentitel korrekt suggeriert. Angesichts der gewaltigen Stofffülle ist es als bewundernswerte Leistung anzusehen, wie es dem Autor hier weitgehend gelingt, die griechische Mythologie von der Erschaffung der Welt über die Heldentaten des Herakles, des Theseus oder der Argonauten bis hin zur Zerstörung Trojas und den Schicksalen des Agamemnon und des Odysseus nach ihrer Heimkehr in gestraffter Form darzustellen und dabei noch viele interessante Details miteinzubeziehen, die vielfach nur Fachleuten bekannt, aber auch für Laien von Bedeutung sein dürften.

Übersichtlich strukturiert führt das Buch den Leser in die Welt der Götter und Heroen ein – die Strategie des Autors weist jedoch sowohl Vor- als auch Nachteile auf. Daß neben der Zeit vor der Herrschaft des Zeus, neben Zeus, Hera und den anderen olympischen Göttern auch Hades, der Gott der Unterwelt, Dionysos, der Gott des Weines, und der Sonnengott Helios sowie die dazugehörigen Themenkomplexe separat gewürdigt werden, ermöglicht es dem Autor, viele verstreute Sagenkreise schlüssig zu bündeln; ebenso war es taktisch klug, die Ausführungen über die Götter mit einem Prometheuskapitel zu beenden und somit einen idealen Brückenschlag zur Menschenwelt zu tun.

Dort angekommen, wird es dann aber doch etwas problematisch: Gewiß gibt es keine absolut widerspruchsfreie Chronologie der antiken Sagenwelt, aber die unleugbaren Anhaltspunkte für kausale Zusammenhänge sollte man denn doch nicht so ohne weiteres übergehen. Es spricht nichts dagegen, die Ausführungen über die Heroenwelt mit einem Kapitel über das thebanische Fürstengeschlecht von Kadmos bis zu den Sieben gegen Theben und deren Epigonen zu beginnen. Auch ist es strukturell unumgänglich, die Ausführungen über das Tantalidengeschlecht bei Agamemnon und Menelaos abzubrechen und die weiteren Schicksale der Atreussöhne erst wieder im Zusammenhang mit dem Trojanischen Krieg und dessen Folgen zu beleuchten, doch den Sagenkomplex um Theseus vor Herakles zu behandeln, ist eine offensichtliche strukturelle Schwäche, zumal die Geschichten um Theseus vielfach auf Herakles zurückverweisen und der Autor zudem Theseus in seiner Rolle als "attischer Herakles" explizit thematisiert. Eine gemeinsame Behandlung von Perseus und Bellerophon in einem eigenständigen Kapitel wäre logisch durch das Bindeglied des Flügelrosses Pegasos begründet gewesen, welches dem Rumpf der von Perseus enthaupteten Gorgo Medusa entsprang und später dem Bellerophon als Reittier diente. Die hier gewählte Darstellungsabfolge ist jedoch kaum nachvollziehbar und schlicht als konfus zu bezeichnen.

Auch überraschen einige Gewichtungen. So erfreulich es ist, die unterschiedlichen Erzählungen über das Schicksal des Odysseus nach dem Sieg über die Freier verzeichnet zu finden, so überraschend ist es wiederum, daß die vielen, stellenweise höchst widersprüchlichen Sagen über Orest und die Kinder Klytämnestras mit Aigisthos, schlicht übergangen wurden. Auch verwundern manche Lücken in den Auflistungen. Gewiß würde niemand von einer Kurzdarstellung der griechischen Mythologie verlangen, daß in ihr sämtliche Freier der Penelope, sämtliche 50 Töchter des Nereus (da genügt die bekannteste, nämlich Thetis, die Mutter des Achill, vollauf), sämtliche 50 Töchter des Thespios und sämtliche von Herakles mit denselben gezeugte 50 Söhne genannt werden – dafür sind immer noch Apollodor und der Große Pauly da. Gleichwohl fällt es durchaus unangenehm auf, daß manche keineswegs unerheblich zu nennenden Göttergruppen nur unvollständig verzeichnet sind (Titanen, Giganten) oder eben nur mit ihrem Gruppennamen erwähnt werden (z. B. Graiai). Allzu viel Platz hätten diese und andere Informationen sicher nicht beansprucht, und hierfür hätte man auch dankend auf Special Equipment wie die jedem Kapitelende angehängten Fragenkataloge verzichtet, deren Kommentierung man sich, bis auf Ausnahmen, besser sparen sollte. Allerdings sind die Genealogien und Glossarien am Ende des Buches erneut sehr hilfreich.

Die Reihe "Kultur Kompakt" hat sich das löbliche Ziel gesetzt, zentrale Elemente der kulturellen Überlieferung, die dem heutigen Leser nicht mehr so selbstverständlich zu eigen sind wie früheren Generationen, in komprimierter Form einem interessierten Publikum nahezubringen. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Und in der Tat ist die Kenntnis der griechischen Mythologie neben der Kenntnis der Bibel unabdingbar für das Verständnis der meisten Erzeugnisse abendländisch-europäischer Kultur. Gleichwohl haftet dem kulturpolitischen Utilitarismus, der als Grundimpuls zu Kanondebatten, Bestenlisten und Einstiegserleichterungen wie der vorliegenden angesehen werden muß, ein etwas unangenehmer Beigeschmack an. Ob die Verfasser der Einleitungstexte zu solchen Reihen tatsächlich glauben, daß die Leute ihren Wissensdefiziten im Bereich klassischer Bildungsinhalte beizukommen versuchen, um Goethes "Ganymed" oder Goyas "Saturn verschlingt seine Kinder" besser zu verstehen? Traut man dem Zuschauer von Fernsehserien wie "Hercules" und "Xena", von zeitgenössischen Hollywoodspektakeln wie "Troja" oder den (Zeus sowie sämtlichen öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten sei Dank!) immer wieder ´mal aus der Versenkung geholten unsterblichen Sandalenfilmen der 1960er Jahre nicht zu, aus purem Interesse an den Originalen den Weg zu den Quellen auf sich zu nehmen und die griechische Mythologie um ihrer selbst willen und völlig zweckfrei zu ergründen – sei's nun über Gustav Schwabs "Sagen des klassischen Altertums", über Konversationslexika oder über die Leser aller Bildungsschichten zwar nicht unmittelbar ansprechenden, dafür aber ernst nehmenden Studien eines Karl Kerenyi oder Michael Grant? Überdies offenbart die Verwendung des Begriffs "Wissenschaftskauderwelsch" sehr deutlich das Dilemma solch bildungspolitischer Generaloffensiven, sich einerseits als über einer bestimmten Zielgruppe stehend zu geben, sich jedoch andererseits bei ihr vermeintlich anbiedern zu müssen.

Doch sollten diese Einwände gegenüber dem pseudopädagogischen Überbau von Buch und Reihe nicht den Blick auf die Verdienste der einzelnen Arbeiten und speziell auf die des vorliegenden Bandes versperren. Kenner wie Neulinge werden Abensteins gewitzt geschriebene "Griechische Mythologie" mit Gewinn zu handhaben wissen – hoffentlich ohne sich von den didaktischen Entgleisungen benebeln zu lassen und hoffentlich nicht nur, um einen guten "Telephon-Joker" abzugeben. Man kann sich gewiß Angenehmeres als den Würgegriff einer Riesenraupe vorstellen, aber ob demgegenüber die Bevormundung durch bildungsbürgerlichen Überlegenheitsdünkel wirklich als bevorzugenswert anzusehen sein sollte, darf man geflissentlich zu bezweifeln wagen.

 

Info:

Reiner Abenstein: Griechische Mythologie. Kultur Kompakt
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2016
4., aktualisierte Auflage
278 Seiten, EUR 19.99 (DE), EUR 20.60 (AT), sfr 25.30 (freier Preis)
Bestellnummer: UTB2592
ISBN: 978-3-8252-4502-3
EAN: 9783825245023