Lamya Kaddor, Die Zerreißprobe. Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht, bei Rowohlt Berlin,Teil 5/6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Was in dem vorliegenden Buch völlig fehlt, ist die Mentalitätsgeschichte der Deutschen überhaupt anzusprechen. Stattdessen heißt es: „Weder die Politiker noch die Intellektuellen oder die Wissenschaftler sagen uns, wo diese Land heute steht und wie wir es verstehen sollten.“


Was ist denn hier los? Um Gottes willen! Ich laß mir doch nicht von einem Politiker vorschreiben, wo Deutschland heute steht und wie ich es verstehen soll? Ich versuche, durch meine Aktivitäten als Deutsche mit dazu beizutragen, daß wir in einem humanen Land leben, in dem der Reichtum der einen auch zum Wohl derer dient, die aus welchen Gründen auch immer: falscher Wohnort, falsche Eltern, eigene Schuld zu den Abgehängten gehören. Ich versuche, so etwas wie Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft ernst zu nehmen. Das ist für mich deutsch. Und da will ich hin.

Aber eine so obrigkeitsstaatliche Anwandlung, wie sie Autorin Kaddor tatsächlich vorbringt, zu fragen: „wo dieses Land heute steht und wie wir es verstehen sollten.“, das ist 200 Jahre nach der Aufklärung und dem Leid, daß der Nationalsozialismus über die Deutschen gebracht hat, einfach peinlich. Übrigens habe ich bewußt formuliert: über die Deutschen gebracht, obwohl ein Großteil der Opfer auch aus anderen Ländern stammen. Aber die deutschen Juden, das sind Deutsche gewesen, und alle Euthanasieopfer auch, und was deutsche Leitkultur angeht, auf die die Verfasserin dann zu sprechen kommt, so gibt es sie beispielsweise bei denen, die von den Nazis ins Exil getrieben wurden, so sie nicht gleich in den Gaskammern ermordet wurden. Die ganze Phalanx von exilierten Künstlern, die hauptsächlich in den USA, auch England, auch Rußland, das dortige Kulturleben immens bereicherten, ist den Deutschen von den Nationalsozialisten gestohlen worden. Das kapieren viele Deutsche noch immer nicht, daß sie regelrecht um ihre Kultur und ihre Kulturträger gebracht wurden.

Das was auf Seite 198 zur Leitkultur vorgebracht wird, ist peinlich dünn. Was muß ich als Autorin erst einen Popanz aufbauen, den ich dann kunstlos zerschlage. Es gibt in Deutschland eine nicht ausgesprochene und schwer zu formulierende „Kultur“, die das Wörtchen 'Leit' nicht braucht, weil es um den humanen Umgang der Menschen miteinander und ihr Verwachsensein mit ihrer Kultur bedeutet, auf deren Wurzeln wir noch eingehen. Daß irgendwann dann auch Anteile der muslimischen Kultur dazugehören? Das kann man der Geschichte überlassen. Aber die Verfasserin kann das nicht. Sie schreibt wirklich: „Wir“ - schon wieder das vereinnehmende Wir - „halten teilweise an Vorstellungen fest, die nach 1945 definiert wurden und zu der Zeit noch identitätsstiftend waren, aber heute längst überholt sind: An erster Stelle steht die damals noch weitgehend homogene Gesellschaftsstruktur.“ „Ja, meine Fresse!“ möchte man da ausrufen. Weiß die Autorin, was sie da Falsches und Dummes sagt?

Nach 1945 war gerade das, was gerne 'Leitkultur' genannt wird, total zusammengebrochen. Die Nazis hatten ein ganzes Volk in den Abgrund gerissen, sie hatten abgewirtschaftet und mit ihnen ihr Kulturbegriff und ihre Kulturausübung. Gut so. Leider waren für lange und sind es ein bißchen bis heute auch Bestandteile unserer Kultur wie gemeinsames Liedersingen, Volksbrauchtum u.a. einfach verpönt, weil von den Nazis mißbraucht.

Die zuvor in ihren Landstrichen sich zu Hause fühlenden Menschen in Westdeutschland hatten auf einmal massive Probleme damit, daß sie erst mit den Flüchtlingen aus den verlorenen  deutschen Ostgebieten, dann mit Kriegsheimkehrern, dann infolge des Wirtschaftswunderlandes mit den Italienern, dann zunehmen mit vielen weiteren Ausländern, dann mit dem massiven Zuzug von Türken zurechtkommen mußten. Ganz abgesehen davon, daß natürlich die größeren Probleme für die Hinzugekommenen bestanden. Insgesamt war das doch eine viel größere gesellschaftliche Herausforderung für die Deutschen und ihren westdeutschen Staat, als die heutige Situation, die zudem auf eine relativ gesättigte Bevölkerung trifft. Damals herrschte Hunger…..

Und was setzt die Verfasserin dagegen, wenn sie auf Seite 199 fordert: „Eine intensive Debatte über unsere deutsche Identität ist gerade jetzt bitter nötig. In Zeiten, in denen innerhalb eines Jahres fast eine Million Menschen kommen….sollten wir endlich aushandeln, was uns im Innersten zusammenhält. Wir sollten ein neues deutsches Wir festlegen – das ist nicht nur eine Herausforderung, sondern eine Chance.“

Entschuldigung, aber ich brauche kein neues deutsches Wir. Ich habe genug damit zu tun, den Herausforderungen der Zeit nachzukommen, die sicher nicht im Bereich der Diskussion darüber liegen, was deutsch sei oder nicht. Den Deutschen ist zwar seit Goethes Faust ein Hang zum Diskutieren und eine Schwäche im Handeln eigen, aber bei den beschriebenen Problemen geht es doch wohl ums Handeln und nicht um Worte.
Fortsetzung folgt


Info:
Lamya Kaddor, Die Zerreißprobe
Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht
Originalausgabe, 240 Seiten
€ 16,99 (D)/ € 17,50 (AT)
ISBN: 978-3-87134-836-5
Erstverkaufstag 21. September 2016