KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für Oktober 2016, Teil 2
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Was für DIE NACHT VON ROM gilt, nämlich viele literarischen Genres in einem zu sein, gilt für NACKTER MANN, DER BRENNT erst recht. Friedrich Ani schreibt einen richtigen Roman, bei dem man sich wundert, warum er nicht beim Deutschen Buchpreis dabei ist. Wieso gilt die Trennung von Krimi und 'normalem' Roman noch heute?
Dieses Buch auf jeden Fall ist die Beichte eines Besessenen, dem seine Kindheit und Jugend in der Provinz erst beim Älterwerden so vor Augen steht, daß er handeln muß und die Schufte und Mißbraucher seiner Jugend gnadenlos vom Erdboden tilgen muß. Und darum könnte dies auch die Literarisierung eines heute offen diskutierten Verbrechens an Kindern und Jugendlichen sein, was mit Pädophilie eigentlich noch immer zu nett ausgedrückt ist. Dabei wird, das ist eigentümlich, nie ganz genau ausgedrückt, was diese besseren Herrn der Gesellschaft, vom Pfarrer über den Apotheker zu den anderen Honoratioren des Dorfes, genau gemacht haben, aber es hat jedesmal mit Beschämung, mit Todesangst, mit Ekel, mit Abwehr der Kinder und Jugendlichen zu tun.
Der nackte Mann, der brennt, das ist Ludwig Dragomir, wie er sich jetzt nennt, selber, aber es sind auch die, die er zum Brennen bringt, wenn er nach Heiligsheim (nomen est omen) zurückkehrt, eine überschaubare Kleinststadt oder ein größeres Dorf, in das er als ein anderer einzieht, als er einst auszog. Da war er nämlich vierzehn, als er floh, weil er die Verhältnisse, so wie sie waren, nicht mehr ausgehalten hat. Und er wurde im Leben kein Guter, das was statistisch bedeutsam ist, ist auch hier der Fall: Mißbrauchsopfer neigen dazu, sich in eine kriminelle Richtung zu entwickeln, wobei ihm aber fremd ist, dieselbe gemeine sexuelle Neigung auszuüben. Nein, er ist zwar ein Ekel, aber das nicht! Sonst so ziemlich alles.
Aus diesem Leben in Berlin voll Alkohol, Gefängnisnähe, Drogen, Kleinkrieg mit anderen Kriminellen steigt „Luggi“ plötzlich aus, denn die Bilder der Vergangenheit, die in seinem Gedächtnis eingebrannt sind, die holen ihn ein. Mit dem, was ihm angetan wurde, kommt er schon zurecht, aber er sieht die Freunde, die ihn anblicken, die tot aus dem Wasser gefischt wurden oder erschlagen oder...keinem im Dorf ist aufgefallen, wie viele kleine Jungens starben? Nein, denn alle schauten weg und keiner wollte Genaueres wissen, nicht mal die Eltern der toten Jungen, die ökonomisch von den besser Gestellten abhängig waren. „Je mehr Zeit ich im Dorf verbrachte, desto mehr Kinder kamen zurück und scharrten sich in meinem Kopf ums schwarze Brot der Erinnerung.“
Das ist ein grauenvoller Roman, weil er voll Grauen steckt und dabei glänzend geschrieben ist. Darum sprachen wir vom Deutschen Buchpreis, weil wir wirklich nicht verstehen, wie das ist, mit den Krimis. Ob die von den Verlagen nie eingereicht werden (pro Verlag dürfen nur zwei Romane der Jury zugeschickt werden) oder ob die Jurymitglieder diese nie angefordert hatten (das ist nämlich der Ausweg, wenn es pro Verlag mehr als zwei hervorragende Bücher gibt, denn die Jurymitglieder können von sich aus so viele Roman anfordern, wie sie wollen.) Aber keine Krimis? Und warum nicht.
Doch das gehört auf eine andere Baustelle. Hier sind wir in Heiligsheim und wollen im ganzen Leben nicht in einen solch verlogenen, versifften, hohlen Ort mit so hinterlistigen und gemeinen Bewohnern. Aber ach, wir befürchten fast, das ist ein Allerweltsort, einen solchen kann es häufiger geben. Aber den Ludwig Dragomir eben nicht. Der ist nicht wiederzuerkennen. Erstens ist er abgemagert und sieht wie ein Stecken aus und dann trägt er keine Brille mehr, sondern solche Kontaktlinsen, die auch die Augenfarbe verändern. Nicht mal seine Mutter erkennt ihn – und das ist eine der überraschenden, ja geradezu tröstlichen Wendungen am Schluß, über die wir hier nichts verraten dürfen und wo aus Ludwig wieder der Coelestin von damals wird. Eine irre Benennung: der Himmlische, was insgesamt fünf Päpste von 422 bis 1294 als Name nutzten.
Dieser Dragomir ist ein Widerling. Wie er mit Frauen umgeht, wie mit allen Menschen. Ein Ekel besonderer Art. Aber – und hier setzt die Süffigkeit der Erzählung ein – er ist ja auf der richtigen Seite. Er kommt als Rächer, aber das weiß keiner, denn er erzählt, daß er als Kind mit seinen Eltern, die bei einem Unfall umkamen, hier immer seine Ferien verlebte und so gute Erinnerungen an den Ort hat.
Der Leser wird hin- und hergeschüttelt. Denn mußten früher – wie das heute so ist, davon schweigt der Roman – die Knaben dran glauben und einige so früh in den Tod gehen, so erwischt es derzeit in Heiligsheim die Alten. Nur alte Männer, selbstverständlich, und eben auch die, die doch etwas zu sagen hatten im Dorf. Sie sind verschwunden, oder im Wald beim Spazierengehen einfach gestorben. Oder hatten einen Unfall. Wir bekommen alle Tode mit und auch den Prozeß, wie einer in der Kammer beim Dragomir dahinvegetiert, bis er stirbt. Und mit dessen Ehefrau Dragomir ein widerwillig durchgezogenes Verhältnis hat. Widerwillig von beiden Seiten, auch wenn die Ehefrau so langsam mißtrauisch wird, wo ihr Mann abgeblieben ist.
Höchste Zeit von der Kommissarin zu sprechen. Wobei einem da der Atem stockt. Denn wir sind gewohnt, daß Kommissare häufig in brenzelige Situationen kommen, diese aber überleben. Was hier mit der kühlen und heißen Kommissarin aus der Stadt Anna Darko passiert, wird nicht verraten, wie überhaupt der Schluß mit Überraschungen aufwartet. Friedrich Ani ist – wieder einmal – ein starkes Stück Literatur gelungen. Aber auch ein Stück, wo es einem dauernd kalt den Rücken hinunterschauert.
Die KrimiZEIT-Bestenliste Oktober 2016
INFO:
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
Die KrimiZEIT-Bestenliste September wird am 6. Oktober 2016 in der Wochenzeitung DIE ZEIT, auf ZEITonline unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste und im Nordwestradio veröffentlicht, am Donnerstag, den 6. Oktober 2016 gegen 9.20 live mit Tobias Gohlis und in den Sendungen der „Buchpiloten“, nachzuhören unter
www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/bestenliste100.html
Monatlich wählen einundzwanzig auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt inzwischen über 1800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste auf dem aktuellen Stand:
Tobias Gohlis, Kolumnist DIE ZEIT, DeKrPr*, Moderator und Jury- Sprecher der Krimiwelt
Volker Albers, Hamburger Abendblatt, DeKrPr*
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR, DeKrPr*
Gunter Blank, Sonntagszeitung Zürich
Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, SWR
Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Lore Kleinert, Radio Bremen
Elmar Krekeler, Die Welt
Kolja Mensing, Dradio Kultur
Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR, DeKrPr*
Jan Christian Schmidt, www.Kaliber 38.de, DeKrPr*
Margarete v. Schwarzkopf, Freie Literaturkritikerin
Ingeborg Sperl, Der Standard - Wien
Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau, DeKrPr*
Jochen Vogt, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Plärrer, culturmag, Dradio Kultur, Penser Pulp bei Diaphanes, DeKrPr*
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie in der RUBRIK BÜCHER auf dem Titel oder unter dem Autorennamen im Archiv finden.
Das Prozedere der Platzverteilung für die Liste ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die jeweils Ende Dezember herauskommt und die wir für 2015 hier ebenfalls kommentierten.
http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6227:die-jahresbestenliste&catid=78:buecher&Itemid=470