Die sechs Finalisten. Deutscher Buchpreis 2016, Teil 15
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso – Gerade habe ich bewegt das Buch, des - ein drittes Mal zum Buchpreis nominierten - Thomas Melle aus der Hand gelegt. Nein, kein Roman, aber große Literatur. Dieses Gefühl dringt in einen während des Lesens genauso ein, wie das Mitgefühl, angesichts einer Krankheit, die man nicht messen und wiegen kann, aber erleiden und durchleiden muß, wenn man sie hat.
Nein, die genetischen Dispositionen, die es gibt, im Buch aber nur dezent eine Rolle spielen, die wollen wir genauso wenig erforschen, wie die Krankheit selber. Wir wollen darüber sprechen, wie aus einem amorphen Hin- und Hergeschütteltsein im Leben, das von einer Katastrophe in die nächste schlittert, von Schüben heimgesucht, die von Selbstmordgedanken und -versuchen begleitet sind, wie daraus Literatur geworden ist.
Nein, kein Sachbuch, um den ärgerlichsten Einwand gegen die Auswahl von DIE WELT IM RÜCKEN für den Deutschen Buchpreis gleich zu erledigen. Natürlich hätte der Autor auch einen fiktiven Dritten dies alles erleben lassen können. Aber es geht ja genau darum, offen zu legen, unter welchen Bedingungen SICKSTER und auch 3000 EURO geschrieben wurden, beide im jeweiligen Jahr nominiert und beide voll von Ereignissen und krankhaften Zügen ihrer literarischen Hauptfigur, von der man, der man Thomas Melle nicht persönlich kennt, erst jetzt versteht, welche Anteile, vor allem Erfahrungen des Autors darin stecken. Und so spürt man auch, daß Melle mit seiner Lebensbeichte auch ein Kapitel schließen will, um sich anderen Themen zuzuwenden.
Wie er das macht, wie Thomas Melle hier mit den Mitteln der Form, einem Prolog und Handlungsverläufen sowie Erinnerungen, die in den Jahren 1999, 2006, 2010, 2016 gebündelt wurden, einer nicht faßbaren Krankheit an den Kragen geht, ist so todesmutig wie hochfahrend, dazu grandios gelungen. Beim Lesen - das ich nicht in einem Zug bewältigte, oft mußte ich das Buch wieder weglegen, weil es harte Kost ist – schleicht sich immer wieder eine Bewertung ein. Immer wieder sagt das Gefühl, hier geht es um Wahrheit, das ist einfach ein sehr wahres Buch vom Menschen unter extremen Bedingungen, auch wenn damit nicht angedeutet werden soll, daß es sachliche Krankheitsverläufe seien.
Vielleicht ist es sinnvoll, hier den Klappentext zu zitieren, der zwar lang ist, aber dem wir attestieren, noch niemals einen so aussagekräftigen Text zu einem Buch im Buch selber gefunden zu haben, sozusagen kongenial, wie von Melle persönlich: "Wenn Sie bipolar sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Die Krankheit hat Ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft. Mit jeder manischen Episode wird Ihr Leben, wie Sie es kannten, weiter verunmöglicht. Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr. Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein. Und Sie wissen nicht mehr, wer Sie waren. Was sonst vielleicht als Gedanke kurz aufleuchtet, um sofort verworfen zu werden, wird im manischen Kurzschluss zur Tat. Jeder Mensch birgt wohl einen Abgrund in sich, in welchen er bisweilen einen Blick gewährt; eine Manie aber ist eine ganze Tour durch diesen Abgrund, und was Sie jahrelang von sich wussten, wird innerhalb kürzester Zeit ungültig. Sie fangen nicht bei null an, nein, Sie rutschen ins Minus, und nichts mehr ist mit Ihnen auf verlässliche Weise verbunden."
Und dann steht darunter: Thomas Melle leidet seit vielen Jahren an der manisch-depressiven Erkrankung, auch bipolare Störung genannt. Nun erzählt er davon, erzählt von persönlichen Dramen und langsamer Besserung - und gibt einen außergewöhnlichen Einblick in das, was in einem solchermaßen Erkrankten vorgeht.
Wir hätten das Buch DIE HEIMSUCHUNG genannt, denn um eine solche handelt es sich. Egal, ob sie von einem Gott, dem Teufel oder den Genen kommt. Aber dies DIE WELT IM RÜCKEN zu nennen, hat auch ihren Sinn, denn diese Welt sind seine Bücher, seine Bibliothek oder besser: die Literatur der Welt. Mit dem größten Schrecken für unsereinen beginnt der Prolog, der davon berichtet, daß die Bibliothek von Thomas Melle verloren ist. Später wird er darauf immer wieder zurückkommen, wie er nach Autoren im Regal greifen will, weil er einen Gedanken von diesem oder jenem nachlesen will, aber ins Leere greift, denn er hat sie ja erst nach und nach und dann auf einen Schlag in seinen manischen Phasen verkauft!
Und jeder, der alles hergeben täte, wenn er nur seine Bücher behalten darf, leidet mit ihm mindestens genauso wie bei den 'echten' Katastrophen. Die gibt es zuhauf und viele schlimme Anwürfe an Menschen, für die sich der Autor im Wachen schämt und manchmal hat man das Gefühl, daß er dies Buch auch deshalb geschrieben hat, um sich bei so vielen zu entschuldigen, die über die Benannten im Buch, wo er sich konkret entschuldigt, hinausgehen. Das wurde uns manchmal zu viel, weil dann eine Schreibabsicht aufscheint, die wir nicht vertiefen wollen. Hier geht es uns um den Begriff der Katastrophe, der gleichermaßen für Unfälle, Ausfälle gegen Menschen und denen im Kopf gilt. Letztere sind nicht nämlich weniger 'echt' als die wirklichen.
„Anderthalb, zwei, zweieinhalb Jahre: zusammen sechs. Sechs Jahre hat die Bipolarität mir gestohlen. Ich bin also eigentlich fünfunddreißig, körperlich aber dreiundfünfzig und im Inneren alternierend mal sieben, mal siebzig Jahre alt.“( 342) Da allerdings muß man dem Autor sagen, daß es uns auch ohne Bipolarität genauso geht. Das gilt erst recht für die Seite 234f, wo er auch nicht von Krankheit sondern vom Dialogisieren im Kopf spricht: „Diese 'Kopfdialoge' waren schon immer ein Bestandteil meiner Gedankenwelt gewesen. Jeder kennt sie auf seine Weise: Die Antizipationen., Nachbearbeitungen oder eben völlige, nicht an wirkliche Ereignisse gekoppelte Erfindungen von Gesprächsabläufen mit irgendwelche Personen, mal hitzig, mal cooler als in der Wirklichkeit je möglich, mal korrektiv, mit der verpassten, nachgereichten Pointe am Ende.“
Und warum dies kein tieftrauriges, sondern immer wieder urkomisches Buch ist, hat damit zu tun, daß Thomas Melle eben nicht nur die Niederungen der Depression aufschreibt, sondern von den skurrilen Auswüchse seiner manischen Phasen Ergötzliches berichtet, wenn er mit Madonna schläft, als Messias die Welt erlöst, Picasso so richtig die Meinung sagt oder auch nur allerhand ganz schön gemeinen Schabernack mit seinen Kollegen und deren Accounts treibt. Dieses Unsentimentale als Haltung, auch sich selber gegenüber, hinter der man das Sentiment verspürt, gepaart mit sprachlichen Mitteln, das Unsagbare dann doch eindrücklich ausdrücken zu können, macht Thomas Melle zu einem würdigen Buchpreisträger 2016. Wenn die Jury sich traut.
Kommentar der Jury
Dieses Buch erzählt von der verwundbaren Conditio Humana in unseren Zeiten. Dieses Buch tut weh, es erschüttert und es ist manchmal irrsinnig komisch. Thomas Melle berichtet von der Krankheit seiner seelischen Störung. Mit irrlichternder Präzision beschreibt er sein im Neuronenfeuerwerk verrücktes Selbst. Kongenial übersetzt er die wahnwitzige Wahrnehmungsverschärfung seiner paranoiden Psychose in grandiose Literatur. Mit der Chronik seiner manisch-depressiven Schübe, die ihn durch Clubs, Konzerthallen und Kliniken treiben, zeichnet Melle wie nebenbei ein Stimmungsbild der popkulturellen Gegenwart.