Die sechs Finalisten. Deutscher Buchpreis 2016, Teil 14
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Sie schaffen es nicht!“ - raunt es einem aus der schönen – ja, eigentlich – Novelle entgegen, wenn man in einem Rutsch die Rutschpartie vom Bodensee bis nach Sizilien und zurück auslesen möchte, die der in die Jahre gekommene Reither mit seiner ewig jungen Prinzessin unternimmt.
Denn würden sie es schaffen und aus dem Ex-Verleger Reither - dessen Vorname keine Rolle spielt - und Leonie – deren Vornamen eine große löwenhafte Rolle spielt –, würde auf Dauer ein Paar werden, dann wäre diese Geschichte eine simple Liebesgeschichte, also genau das, was in Wirklichkeit viel schwieriger zu leben ist, als eine unglückliche Liebesgeschichte zu schreiben. Diesen Gedanken trägt man in sich, wenn man das tastende Herangehen des Hauptprotagonisten Reither und seines ihm flüssige Worte gebenden Autors liest, immer weiter liest, denn wie es beim Tasten so ist, man will schon wissen, wo das Ende ist und sich der Sinn des Ganzen erschließt.
Kunstvoll hat er geschrieben, der versierte Autor Bodo Kirchhoff, der über ganz bestimmte Leute schreibt, sicher auch für genau die Klientel, die in seiner Novelle – so steht es auch auf dem Titel – WIDERFAHRNIS erleben, also schon älter Gewordene, im Herzen und teilweise auch in den Knochen noch junge Gebliebene, Enttäuschte, noch Neugierige und auf das gute Ende Hoffende, Intellektuelle und Kultivierte und eigentlich jeden, den es interessiert, was im Leben noch auf ihn zukommen kann. WIDERFAHRNIS eben.
Aber auch VERLANGEN und MELANCHOLIE oder DIE LIEBE IN GROBEN ZÜGEN wie die letzten Romane Kirchhoffs hießen. Auch sie handeln von den Schwierigkeiten, aber auch dem Verlangen zwischen Mann und Frau, die Sehnsucht nacheinander auch zu erfüllen, mit Leben zu füllen, statt sie auszugießen, wenn das gemeinsame Leben eigentlich beginnen müßte. Selten allerdings hat Kirchhoff uns so klar mit auf den Weg gegeben, warum sie nicht zusammenkommen, die Zwei, die zwar keine Königskinder sind, aber für die dennoch das Wasser viel zu tief wurde.
„Diese Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie begonnen?“ beginnt der Autor, von dem wir noch nicht wissen, ob es ein Icherzähler ist...und lesen weiter, bis es heißt: „Und mit der Zigarette im Mund holte Reither – genau an der Stelle hätte er den Namen eingeführt – eine Flasche...“...und wissen augenblicklich, daß Autor Kirchhoff nur stellvertretend für Reither spricht und schreibt, denn Kirchoff sitzt in Reiters Kopf und notiert dessen Gedanken, seine Gefühle, seine Handlungen – und damit hat er viel zu tun, denn Reither gehört zu denen, die ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen stetig kommentieren.
Es scheint so, also ob Kirchhoff mit seiner Novelle gleich beides in den Griff bekommt: über Seelenleben und Veränderung von Menschen anteilnehmend zu erzählen und dann auch noch – ohne daß es allzusehr aufgesetzt wäre – die Tagesaktualität von Flüchtlingen in das Geschehen hineinzuweben. Es ist sogar eine Verschärfung insofern, als die Vergangenheit die beiden Älteren sehr viel mehr verbindet, als es die Zukunft vermuten läßt. Wenigstens in den Augen der Frau. Denn, daß sie ohne Reither weiterleben will, das erwächst in ihren Augen aus seinem Umgang mit der Flüchtigen von Sizilien. Und daß er flugs daraus lernt, das zeigt sein Handlen mit der afrikanischen Flüchtlingsfamilie. Zwar nützt ihm das nichts mehr, was Leonie angeht. Aber für ihn tut sich eine neue Welt auf. Er ist ein Lernender geworden und das hört sicher nicht auf, wenn er zu Hause ankommt.
Wenn gesagt wurde, daß es „so scheine“, dann wurde dies ohne Hintergedanken niedergeschrieben. Es scheint nicht nur so, es ist auch so. Dennoch bleibt bei der Verbindung beider Themen ein Fragezeichen ins uns zurück. Ein würdiger Buchpreisträger wäre Kirchhoff allemal.
Kommentar der Jury
„Boy meets girl“, das geht auch im vorgerückten Alter. Alles ist möglich, sogar die große späte Liebe, als der Ex-Verleger Reither und die Ex-Hutladenbesitzerin Palm mitten in der Nacht, in der sie sich zum ersten Mal begegnet sind, spontan ein Auto besteigen und nach Süden aufbrechen. Ein Moment der Wahrheit für zwei Menschen, die aus Klugheit und Erfahrung radikal genug sind, alles zu wagen. Bodo Kirchhoff ist ein großer Erzähler, dessen Präzision die Phantasie des Lesers stimuliert statt zu sättigen. Ihm gelingt in diesem sprachlich virtuosen, menschlich berührenden und dabei unprätentiösen Prosawerk die ganz unwahrscheinliche aber literarisch zwingende Verbindung einer melancholischen Liebesgeschichte mit der gar nicht romantischen europäischen Realität der Jetztzeit. Ein makelloses Buch.
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