Am Sonntag, 23. Oktober, stellte er bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt (WBG) sein neues Buch DAS DRITTE REICH vor und diskutierte beim SPIEGEL mit Nils Minkmar

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Zuerst einmal überrascht der britische Historiker Richard J. Evans (*1947), Professor für Neuere Geschichte an der Cambridge University, mit seinem ausgezeichneten Deutsch. Tage vorher war auch Ian Kershaw (*1943 ) beim WELTEMPFANG in Halle 3.1 mit seinem perfekten Deutsch aufgefallen und der durch die Verbindung mit der Goetheuniversiät besonders häufige Gast in Frankfurt, Christopher Clark (*1960) geht schon fast als Muttersprachler durch.


Die drei Historiker eint auch, daß sie alle drei von Elizabeth II. zum Ritter geschlagen wurden, also Sirs sind.

Die guten Deutschkenntnisse sind nicht nur ein Ausdruck dessen, daß die in Deutschland noch heute üblichen Bedingungen für ein Geschichtsstudium: zwei moderne Fremdsprachen + Latein früher auch in Großbritannien herrschten, sondern für alle drei gilt insbesondere, daß die Inhalte ihrer geschichtlichen Forschungsarbeiten, die in den Büchern ihren Niederschlag finden, Deutschland gelten.

Während der Australier Clark, der ebenfalls in Cambridge lehrt, Spezialist für den Ersten Weltkrieg ist, sind Kershaw und Evans für ihre Arbeiten zum Dritten Reich und Hitler bekannt. Evans dreibändige Geschichtsbetrachtung über das „DRITTE REICH“ gilt als Standardwerk. Das neue Buch DAS DRITTE REICH. GESCHICHTE UND ERINNERUNG IM 21. JAHRHUNDERT baut zwar auf diesem auf, untersucht aber neue Sichtweisen der letzten 20 Jahre auf den Nationalsozialismus und deren Konsequenzen. So werden sowohl die Kumpanei  zwischen der NSDAP/Staatlichen Stellen  und  deutschen Wirtschaftsmächten stärker als bisher beleuchtet, wie auch das Fortwirken des nationalsozialistischen Personals und damit des Nationalsozialismus im Nachkriegswestdeutschland.

Was Letzteres angeht, fühlte man sich in der Vergangenheit wie ein Rufer in der Wüste, wenn man genau dies personelle Fortwirken ansprach, für das die Person Hans Globke als Chef des Bundeskanzleramtes unter Adenauers steht. Globke hatte nicht nur die Nürnberger Rassegesetze mitverfaßt, sondern sie dann auch noch kommentiert. Wenn Evans  diese furchtbare Kontinuität heute publiziert, befindet er sich in guter Gesellschaft, hat doch gerade die nach 65 Jahren bestellte Rosenburg-Kommission – Rosenburg wurde das Bundesjustizministerium in Bonn genannt, eine Kommission aus Juristen und  Historikern hatte zu untersuchen, inwieweit der Nationalsozialismus personell im Justizministerium überlebte – genau dieses Nazi-Weiterleben und -Weiterwuchern wissenschaftlich bestätigt.

Beim Frage-Antwortspiel sagte Richard J. Evans laut „Ja“, als Minkmar wissen wollte, was er von den erst jetzt angeleierten Prozessen gegen  KZ-Personal halte, ob man die noch vor Gericht bringen solle. Und auf die Rückfrage: „Auch in dem Alter“, kam ein weiteres „Ja!“ Zuvor hatte Evans bedauert, daß es jetzt mit diesem Zeitabstand für Wahrheitskommissionen zu spät sei. Mit diesen versucht man gegenwärtig autoritär, ja diktatorisch geführte Staaten im Übergang zu Demokratien mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren, um gemeinsam im jeweiligen Staatsverbund weiterleben zu können.


Evans ist als Spezialist des 20. Jahrhunderts – er schreibt derzeit über die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts – bekannt, was voraussetzt, daß er dessen Herkunft aus dem 19. Jahrhundert kennt. Wie er nun das Europa des 21. Jahrhunderts einschätze, war die folgerichtige Frage. Daß  Evans spontan zur Volksbefragung, dem BREXIT, kam war klar, wobei er sofort die schwache Mehrheit ansprach, daß sich 52 Prozent zwar für den BREXIT (Leave)  ausgesprochen hätten, aber doch 48 für das Bleiben in der EU (Remain). Diese Entscheidung sei in der Folgewirkung völlig unklar. Es gäbe eine neue Debatte über die Art und Weise des Ausstiegs, die alles andere als klar sei. Keiner wüßte, was geschehen werde.

Durch seinen Gesprächspartner nach seiner Meinung, seiner Abstimmungsentscheidung befragt, war der Brite ausgesprochen überrascht, daß er diese noch äußern müsse: „Meine Meinung? Natürlich für Europa“. Soziologisch lasse sich das Wahlverhalten sehr eindeutig spezifizieren. Die Leute, die für BREXIT stimmten, sind Kleinstädter, vom Leute vom Land, kleine Geschäftsleute und die Arbeiterklasse außerhalb Londons, die allesamt unter den gesellschaftlichen Auswirkungen der Politik Englands gelitten hätten, dies aber auf Europa geschoben hätten.

Naheliegende Frage war nun, ob er den hiesigen Studenten empfehlen könne, unter den neuen Umständen in Großbritannien zu studieren. Das bejahte Evans gerne. Heute gäbe es an seiner Universität Cambridge, „der besten der Welt“, Studenten aus 94 Ländern und es hätten in Großbritannien schon die Diskussionen begonnen, daß Studenten grundsätzlich aus den zukünftig erlaubten Kontingenten für Ausländer  herausgenommen werden. Ausländische Studenten sind auf jeden Fall noch immer sehr willkommen.

Sein Blick von England aus auf Deutschland und Europa zeige ihm, daß Pegida und ähnliche antidemokratische Bewegungen am stärksten in den Ländern eine Rolle spielten, die am wenigsten demokratische Kultur besäßen, wie Ungarn und Polen und eben auch in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, die er mit Polen und Ungarn verglich, sei die DDR spürbar. Was Deutschland angehe, schätzt er die Lage als undramatisch ein, die Unterschiede West und Ost werden sich mit der Zeit ausgleichen.

Minkmar verwies auf die Rede des sächsischen Ministerpräsidenten, der nun mit dem Geschichtsunterricht in den Schulen eine Gegenbewegung in Gang setzen wolle. Geschichte gehört zu den Fächern, die im Fächerkanon der letzten Jahrzehnte zu kurz kommen oder für viele Altersgruppen ganz entfallen. Auch Geschichtsstudenten würden heute immer sofort gefragt, welchen Beruf sie denn damit ausfüllten könnten. Blickt man dagegen auf die bedeutenden europäischen Politiker zurück, so haben die meisten Geschichte studiert, die zudem mit allgemeiner Bildung gleichgesetzt werde. In England habe Geschichte als Fach derzeit einen Aufschwung, bekräftigte Evans, weil es als Grundlage für viele Berufe angesehen werde, was bisher der universitären Kombination Politik, Philosophie und Ökonomie zukam.

Das war ein interessantes Gespräch, das leider zeitlich seinen Rahmen hatte. Denn man hätte sehr gerne nachgefragt. Zu kurz kam uns die Nachkriegszeit, nicht die unmittelbare Zeit nach der Niederlage, sondern die Aufbauarbeit im sogenannten Wirtschaftswunderland. Da hatten wir erwartet, daß Nils Minkmar nach der Rolle von Fritz Bauer gefragt hätte, die für uns deutlich und bedeutend ist, die aber von der deutschen Geschichtswissenschaft erst nach und nach in seiner Tragweite erfaßt und benannt wird. Und im Ausland?

Fortsetzung folgt.

 

Foto: (c) wikipedia.de

Info:
Richard J. Evans, Das Dritte Reich. Geschichte und Erinnerung im 21. Jahrhundert, Philipp von Zabern Verlag 2016

Evans auf der Buchmesse:

Um 12 Uhr findet ein öffentliches Interview am Messestand der WBG, Halle 3.1 F 107 statt.
Hier besteht die Möglichkeit zum Gespräch.

Um 14 Uhr wird Evans beim Spiegel in  Halle 3.0 D 56 mit Nils Minkmar über sein Buch sprechen.
 Zum Völkermord und der „Endlösung“, zu Hitler und seinen Verbündeten, zu Europas Schlachtfeldern, dem NS-Staat, seinem Zerfall und Untergang gibt es unzählige Publikationen. Ist zum NS-Regime nicht schon alles gesagt? Oder hat die Wissenschaft, im Gegenteil, nicht einen ganz neuen breiteren Blickwinkel auf diese Zeit? Der führende britische Experte Sir Richard J. Evans veröffentlicht mit „Das Dritte Reich. Geschichte und Erinnerung im 21. Jahrhundert“ die Summe seiner Forschung aus den letzten 15 Jahren. Sie geben einen weiten und detaillierten Überblick der Forschung über das Dritte Reich, eingebettet in einen globalen Kontext. Deutlich wird hier ein Umdenken im Verständnis über das nationalsozialistische Deutschland und die zunehmende Verflechtung von Geschichte und Erinnerung. Der Band erscheint am 24. Oktober in deutscher Übersetzung im Verlag Philipp von Zabern. Anläßlich der Frankfurter Buchmesse kommt Evans am Sonntag, 23. Oktober nach Deutschland.