Richard J. Evans, Das Dritte Reich. Geschichte und Erinnerung im 21. Jahrhundert, Philipp von Zabern Verlag 2016
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nach einer gehaltvollen Diskussion über ein Buch, will man dieses sofort lesen. Das ist natürlich – noch mittendrinnen im Zirkus der Buchmesse – bei einem wissenschaftlichen Werk von 470 Seiten gar nicht möglich. Aber den Anfang ganz genau lesen und sich dann durch die Seiten blättern, das geht allemal.
Schon das Vorwort besticht. „Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat sich unser Verständnis des nationalsozialistischen Deutschlands auf vielfache Weise gewandelt. Diese Aufsatzsammlung bietet sowohl einen Überblick über diesen Wandlungsprozeß als auch einen kritischen Kommentar dazu.“ Natürlich ist das so, daß sich der Blick auf den Nationalsozialismus wandelt, aber wird das in Deutschland eigentlich kommentiert? Wenn die Historiker/Juristenkommission zur Rolle der Nazis im Bundesjustizministerium in Bonn einen abschließenden Bericht erstellt, der genau von der Kontinuität der Nazis, hier in einem besonders wichtigen bundesrepublikanischen Ministerium spricht, wird davon zwar berichtet, aber dem folgt nicht eine gründliche Analyse dieser Zeit, aus welchen Gründen nämlich ein Adenauer weithin die Nomenklatura der Nazis übernahm.
Eine Ursache für die Perspektivwechsel sieht Evans in den Globalisierungsprozessen, die gleichzeitig den Blick auf die Nationalstaaten verändert hätten. Für das Dritte Reich bedeutet das, daß dieses nicht mehr als genuin deutsche Angelegenheit gesehen werde, aus deutscher Geschichte seit der Reichsgründung und Bismarck zwangsläufig entstanden und gewissermaßen pervertiert. Stattdessen erfolgt die Analyse der Vergangenheit heute in komplexem internationalen Kontext, so daß auch Deutschland als Teil des imperialistischen Zeitalters betrachtet werden müsse.
Deutschland als wesentlicher Teil des imperialistischen Zeitalters? Das stutzt man erst einmal. Im ersten Kapitel ENTWURF FÜR DEN VÖLKERMORD kommt man als Generation der Nachkriegszeit dann kräftig ins Schlucken – und wir bezweifeln, daß es um das Geschichtsverständnis Deutschlands für heutige Generationen besser bestellt ist. Sicher, man hat immer wieder etwas über die im Verhältnis zu Frankreich, England und Portugal mickrige Kolonialgeschichte der Deutschen gehört, hat von den Grausamkeiten der Deutschen in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, oder Deutsch-Ostafrika, heute Tansania, Burundi und Ruanda, gegenüber der dortigen Bevölkerung gehört, ein sozial heruntergekommenes Stadtviertel in Frankfurt hieß umgangssprachlich noch in der Nachkriegszeit DAS KAMERUN, was derzeit durch den Zuzug vieler Fremder, aber vielleicht auch aus Politische Korrektheit verlorengeht.
Es war also die ca. drei Jahrzehnte währende deutsche afrikanische Kolonialgeschichte (den Bismarck-Archipel, Regionen von China und die Ritter-Inseln schenken wir uns hier) etwas doch weit Zurückliegendes, was angesichts der dringlichen Notwendigkeit, verstehen zu lernen,wie und aus welchen Gründen das Dritte Reich entstehen konnte, wie es unter Schweigen oder sogar Zustimmung der Bevölkerung die eigenen Mitbürger in KZs verschleppen und diese unter Raub ihrer gesamten Habe heimtückisch ermordete, so vordringlich, daß in der Schule im Geschichtsunterricht gerade noch Platz war für den 1. Weltkrieg, dessen Abschluß 1918 im Waffenstillstand sowie dem „Friedensdiktat“ von Versailles (wo auch die Kolonien den Deutschen 'abgenommen' wurden und den Siegermächten zugeschlagen wurden – nicht den Völkern selbst!) zum ursächlichen Anfang des Dritten Reiches stilisiert wurde.
Mit dieser Lesart räumt Evans auf. Und er verweist auch darauf, daß die 'geklauten' Überseekolonien niemals eine politische Forderung der Nationalsozialisten gewesen sind, was einen auf einmal wundert, die stattdessen als VOLK OHNE RAUM bevorzugten „in Europa zu expandieren“. Was den Charakter und das Ausmaß teutonischen Wütens in Afrika angeht, bezieht sich Evans auf das in Hamburg 1968 erschienene Werk von Helmut Bley KOLONIALHERRSCHAFT UND SOZIALSTRUKTUR IN DEUTSCH-SÜDWESTAFRIKA 1894-1914, das „die entsetzliche Geschichte des deutsches Krieges gegen die Stämme der Herero und Nama in den Jahren von 1904 bis 1907 rekonstruiert.“. Erst stutze ich beim Jahr 1968. Damals hatten solche wie ich anderes zu tun. Neben der lebenslangen Aufarbeitung von Nazi-Deutschland ging es zu Zeiten der Auschwitzprozesse und der Studentenbewegung damals um die aktuelle Großmachtpolitik wie Vietnam oder Befreiungsbewegungen in der Welt.
Was beide – Bley und Evans - dann über die Grausamkeiten der Deutschen gegenüber den schon besiegten Herero berichten, ist eine Politik der völligen Auslöschung. „Aufruf an das Volk der Herero“ „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen.“ Frauen und Kinder wurden in die Wüste getrieben und dem Hungertod und dem Verdursten überlassen. In Deutschland protestierten dagegen Sozialdemokraten und die Katholische Kirche sowie eine bestimmte Klientel von höheren Verwaltungsbeamten, so daß für die Überlebenden dann Konzentrationslager – erstmalige Verwendung des Wortes – geschaffen wurden, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen - kaum Essen, keine Schutzkleidung, Schlagen - Zwangsarbeit verrichten mußten, was für die meisten den Tod bedeutete.
Auch ein Doktor Mengele war vorhanden, der mit Namen Eugen Fischer die „gemischtrassigen“ Einwohner studierte – später war er im Dritten Reich einer der „Rassehygieniker“ - und die Unterlegenheit von Schwarzafrikanern feststellte, aber auch, daß man sie als Hilfskräfte beschäftigen könne; 300 ihrer Schädel nahm er im Rassenwahn mit nach Deutschland.
Natürlich sucht man nach Vergleichen mit den Kolonien anderer europäischer Länder. Jedoch nimmt einem Evans jeglichen Vergleich, wenn er erst einmal konstatiert: „Rassendiskriminierung, Enteignung und Zwangsarbeit waren alles andere als ausschließlich deutsche Phänomene.“, dann aber zugespitzt fortfährt: „Aber nur die Deutschen führten die bereits so bezeichneten Konzentrationslager ein, in denen alles eindeutig und brutal auf Zwangsarbeit und Vernichtung ausgerichtet war. Es sollte zwar den Nationalsozialisten überlassen bleiben, den schreckliche Ausdruck 'Vernichtung durch Arbeit' zu prägen, aber der Effekt war schon damals derselbe.
Und nur die Deutschen unternahmen ausdrücklich den Versuch, ein ganzes kolonisiertes Volk aus rassischen Gründen zu vernichten.Nur die Deutschen erließen ein gesetzliches Verbot der rassischen Mischehe in ihren Kolonien, und zwar nicht nur in...Nur die Deutschen starteten später einen rassischen Vernichtungsfeldzug, der nicht nur die Juden Europas, sondern potenziell die jüdische Weltbevölkerung umfasste. Besteht also ein Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen?“ (15 f)
Erschreckenderweise hatte das damals 1968 nach der Veröffentlichung der Bleyschen Schrift niemand gefragt. Das wurde als Geschichte des 19. Jahrhunderts abgetan und überhaupt nicht auf das Dritte Reich bezogen. Inzwischen haben deutsche Historiker diesen Hintergrund im Blick und Evans ist nicht der erste, der dazu forscht. Man darf gespannt sein, wann deutsche Historiker an dieser These Evans anknüpfen, die ja nicht als These formuliert ist und auch nicht so verstanden wird, sondern als vernünftige Erklärung daherkommt, auf was die Nationalsozialisten aufbauen konnten. Auch der Begriff „Rassenschande“ wurde 1905 im Zusammenhang mit Mischehen kreiert und in die deutsche juristische Terminologie übernommen.
Eine größere Rolle im deutschen Bewußtsein würde die Wahrheit über die deutsche Kolonialgeschichte allerdings erst dann spielen, wenn ein größeres Fernseh'event' daraus würde. So wie die US-Fernsehserie Holocaust- Die Geschichte der Familie Weiß nach der Ausstrahlung 1979 in Deutschland eine neue, weil moralische und empathische Qualität gegenüber dem Massenmord in den Kzs zustandebrachte, kann man sich vorstellen, daß dies für die Normalbevölkerung, die in der Regel solche Werke wie das von Evans nicht lesen, aufklärerisch wirken könnte. Man sieht, unter solchen Umständen sind auch wir für Fernseh'events'. Für die, die sich intensiver als die sogenannte Normalbevölkerung mit unserer Geschichte beschäftigen, ist dies Buch dringend zu empfehlen.
Nur in einem würden wir Evans widersprechen. Er verweist in seinem Vorwort : „Immer häufiger sehen Historiker sogar in der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten inzwischen kein einmaliges historisches Ereignis mehr, sondern einen Völkermord mit Parallelen und Ähnlichkeiten in anderen Ländern und zu anderen Zeiten...“. „Häufiger“? Uns kommt sofort der Historikerstreit in den Sinn, den ja Ernst Nolte losgetreten hatte mit seinem Vergleich der sowjetischen Gulags unter Stalin als Vorlage und der deutschen Konzentrationslager als Hitlers Antwort. Jüngst im Artikel zum Tod von Ernst Nolte kamen wir noch einmal darauf, was bei aller Grausamkeit der Stalinschen Gulags an den deutschen KZs strukturell anders, will sagen, noch schlimmer war und ist: industrieller Massenmord. Aber vielleicht kommt Richard Evans ja darauf noch zu sprechen, denn der Hauptteil des Buches liegt noch vor uns.
Aber den ersten Erkenntnisgewinn wollten wir schon mal weitertragen.
Info:
Richard J. Evans, Das Dritte Reich. Geschichte und Erinnerung im 21. Jahrhundert, Philipp von Zabern Verlag 2016
Über Ernst NOLTE in Weltexpresso
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