Mathias Ènard: Der Alkohol und die Wehmut, Matthes & Seitz Berlin, Teil 1/2

Thomas Adamczak

Wiesbaden (Weltexpresso) - Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Novosibirsk. Zehntausend Werst, also 3000  Kilometer!


Hinreichend   Zeit, um die vorbeihuschende Landschaft wahrzunehmen: »das Weiß der Birken, die Tümpel, die Teiche, die Ströme russischen Lebens«.

Der Erzähler im Roman »Der Alkohol und die Wehmut« des französischen Autors Mathias Ènard unternimmt diese Reise, eine Reise in seine persönliche sowie die jüngere russische  und eine längst vergangene französische Vergangenheit.

Eine solche Zugreise eignet sich in besonderer Weise für vielfältige Erinnerungen. Unsere Städte, lässt der reisefreudige Autor den Ich-Erzähler räsonieren, verwandeln uns. Eigentlich bewohnen die Städte uns, indem sie unseren Gang verändern, unsere Aussprache beeinflussen, die Gewohnheiten lenken. Nur auf dem Lande, in einer Klosterzelle oder in einem Zugabteil kann man ganz man selbst sein, allerdings wohl nur, möchte der Rezensent ergänzen, wenn wir allein reisen.

Das schmale Büchlein »Der Alkohol und die Wehmut« ist die Prosafassung eines Hörspiels, das nach Auskunft des Verlages in der Transsibirischen Eisenbahn geschrieben und im Juli 2010 von France Culture gesendet wird. Die Reise wurde im Rahmen des Frankreich-Russland-Jahres ermöglicht.

Frankreich und Russland: Es geht um diese beiden Länder, in denen blutige Revolutionen stattfanden, die unzählige Menschenleben kosteten. Diese Opfer als Folge von Revolutionen, die u.a. Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit zu verwirklichen versprachen, verweisen auf die Dialektik der Aufklärung.

Ausgangspunkt der Handlung ist Paris, die Hauptstadt der bürgerlichen französischen Revolution. Der achtzehnjährige Ich-Erzähler Mathias flüchtet aus dem Gefängnis seiner Kindheit und Jugend nach Paris und lernt dort Jeanne kennen, die in Paris studiert.

Mathias will Schriftsteller werden, wird von Jeanne zum Schreiben ermutigt. Mathias steckt voller Selbstzweifel, was nicht verwundert, denn er orientiert sich an unerreichbaren Vorbildern. Er möchte so schreiben können wie Thomas Bernhard oder wenigstens wie Kerouac oder Conrad. Um  die »Gewalt«, die seinen Worten fehlt, zu spüren, sucht  er diese im Wahnsinn, im Alkohol, in Drogen und später in Russland, das für ihn wie eine Droge bzw. Spirituose ist.

Jeanne wirft ihm vor, im Alkohol zu versinken: »Dein Problem ist, dass du schreibst, um zu trinken, und nicht umgekehrt!« Jeanne bekommt ein Stipendium für ein Auslandsstudium in Moskau. Mathias folgt ihr dorthin nach ein paar Monaten.

»Was sucht man mit Ortswechseln, was will man auf Reisen …«
Das Thema Reisen ist ein Leitmotiv des Romans. Die Antwort: Es geht bei Reisen, so äußert sich die Hauptfigur,  um Begegnungen, um Freundschaften, die dem Reisenden allerdings nicht geschenkt werden.

In Russland lernt Jeanne auf einer Wolga-Schifffahrt Wladimir kennen, den sie bald Wolodja oder Wlado nennt. Die Zwischenschritte, die bis zur Verwendung der Kosenamen erforderlich waren, können dem Leser, der Leserin erspart werden. Am Ende ergibt sich eine Dreierbeziehung, denn zu Jeanne und Wladimir stößt ja auch Mathias.

Für diese Dreierbeziehung zwischen zwei Franzosen und einem Russen findet der Autor das treffliche Bild der russischen Matrjoschka.   Drei Matrjoschkas, »für immer ineinander geschachtelt und außerhalb voneinander unbrauchbar, entzweit, leer«.

Zwölf Monate wohnen sie zu dritt zusammen, dann kehrt Mathias nach Frankreich zurück. Die Dreierbeziehung ist gescheitert. Das wird nicht chronologisch erzählt, sondern assoziativ, was beim sich erinnernden Bewusstseinsstrom gar nicht anders sein kann.

Mathias sucht die »Gewalt«, die seinen Worten fehlt, in ihrer »maßlosen Freundschaft«, in seiner Leidenschaft für Jeanne, »die in deine (die von Wladimir; T:A.) Arme floh, im schönen Schmerz, sie in deinen Armen zu sehen, in meinem offenbaren Fehlen von Eifersucht, in diesem freudigen Trost, dass du es warst, den sie in den Armen hielt«.

Er glaubt zu wissen, »dass sie das tat, was ich aufgrund meiner Erziehung … nicht tun konnte«.
Ein solches Beziehungsexperiment kommt nicht ohne Hassgefühle aus, schon gar nicht ohne Schuldgefühle, Vorwürfe und Selbstvorwürfe. Die drei können nie über ihre Dreierbeziehung sprechen. Sie fliehen in Alkohol-und Drogenräusche und verstehen deshalb umso weniger, was mit ihnen geschieht.

Beide Männer genießen auf je eigene Art die »umwerfende Gegenwart« von Jeanne. Im Sinne des Wortes werden sie von ihr aus der Bahn geworfen. Jeanne wird aus ihren Männerspielen, zwischen ihnen entsteht nämlich eine intensive Freundschaft, ausgeschlossen, »bevor wir sie zwischen uns aufrieben, uns als gute russische Adelige im Duell schlugen und verschwanden«. Fortsetzung folgt


Info:

Mathias Ènard: Der Alkohol und die Wehmut, Matthes & Seitz Berlin 2016