Mathias Ènard: Der Alkohol und die Wehmut, Matthes & Seitz Berlin, Teil 2/2
Thomas Adamczak
Wiesbaden (Weltexpresso) - Die Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn wird von Mathias allein unternommen.
Auf einen Hilferuf von Jeanne hin fährt er von Paris aus nach Moskau, »Stadt der tausendunddrei Kirchtürme und der sieben Bahnhöfe«. Mehr als zwei Jahre hat er Jeanne, die in Moskau blieb, nicht gesehen. Die Reise nach Sibirien ist eine Reise voller Erinnerungen, in einem »spolni wagon« mit zwei Betten, eins für ihn und eins für den freiwillig aus dem Leben geschiedenen Freund Wladimir.
Wolodja hat, als sie noch zusammen in Moskau lebten, Mathias sein Russland gezeigt, »wie man einem Fremden die eigenen Ländereien vorführt«, schreibt der Autor und legt damit eine irritierende Fährte, denn Wladimir sprach keineswegs nur als stolzer Russe, sondern als jemand, der sich der fürchterlichen Vergangenheit des eigenen Landes sehr wohl bewusst war.
Der Roman Ènards bleibt nämlich nicht bei der Privatheit der tragischen Dreierbeziehung stehen, vielmehr werden in den Erinnerungsstrom des Erzählers Mosaiksteine der russischen Geschichte und vielfältige Verweise auf die russische Literatur eingeflochten.
Gogol kommt mit seinem Roman Tora Bulba zu Wort, erwähnt werden Gorki, Dostojewski, Mandelstam, Tschechow, Schalamow , Achmatova, Jessenin und wie sie alle heißen. Intertextuelle Anspielungen, Verweise in Hülle und Fülle.
Tschechow begegnen wir bereits in dem den Roman eröffnenden Motto: »Sie übertreiben, mein bester Herr, ja, Sie irren sich. Da können Sie lange suchen, Sie werden nichts finden. Die berühmte russische Seele existiert nicht. Das einzig Greifbare daran ist der Alkohol, die Wehmut … Ich versichere Ihnen, etwas anderes ist da nicht.« (Anton Tschechow, Die Postkutsche von Twer)
Naja, denkt der Leser, dazu ließe sich ein wenig mehr sagen, und das bestätigt der Roman, in dem Alkohol und Wehmut gewiss eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Mehrfach ist von der »unermesslichen Traurigkeit« des Erzählers die Rede, der meint, eigentlich passe nur Patagonien zu seiner Traurigkeit.
Zudem begegnet Mathias überall in Russland der »große rote Christus der Revolution«. Er stößt auf den berüchtigten Gulag Perm 36, ein Lager, das erst im Jahre 1988 die letzten „Feinde“ der Sowjetunion verlassen und auf Massengräber, auch diese in Kauf genommene Konsequenzen der »Wut des Väterchens der Völker«, dieses »größenwahnsinnigen, rachsüchtigen Georgiers«.
Die Rede ist von Schiffen mit mehreren Tausend Gefangenen, Todesfrachtern, deren Besatzungen die Gefangenen bei einbrechendem Frost zurückließen, sodass diese mitten im Eismeer jämmerlich erfroren oder verhungerten.
Monate später erst »barg man das Schiff und die Leichen, es bedurfte eines Trupps von dreißig Gefangenen und eine Woche Arbeit, um all die Leichen von Bord zu heben, man musste sie auseinanderhacken wie gefrorene Fische, einen Haufen von Tausenden von Menschen, die sich sterbend aneinandergeklammert hatten, um sich zu wärmen.«
Auf Seite 83 findet sich der aufschlussreiche Satz: »Man musste der Revolution schon sehr zugetan sein, um ihr solche Mengen von Menschenleben zu vergeben, wirklich sehr.« Das sind die Worte eines Franzosen, der aus Paris kommt, der »Stadt der Enthauptungen, der Guillotine«.
Also: Geboten wird in dem Roman die große Geschichte dieser beiden Länder mit den blutigen Auswirkungen der beiden Revolutionen, zweier Länder, die sich auf ihre je eigene Art für das Zentrum der Welt halten, Russland heute mehr als Frankreich. Zu Russlands Selbstbild gehört, dass dieses Land dem Mongolensturm widerstand, auch den Teutonen, den Polen, Napoleon, Hitlerdeutschland. Es widerstand sämtlichen Kriegen und widerstehe heute auch den kapitalistischen Wirbelstürmen.
Am Ende des Romans liegt Mathias im Koma, Folge einer Überdosis an Tabletten. Beide Männer sind Opfer ihres Traums, eines Lebens voller Mut und Würde, einer Würde, wie sie sie verstehen.
Das soll vermutlich das Fazit des Autors sein: Die großen Ziele, die mit der bürgerlichen und proletarischen Revolution verbunden waren, haben sich erledigt. Es bleibt die Sehnsucht nach einem »unendlichen Aufbruch«, nach Freundschaften auf Leben und Tod und nach verbotenen Substanzen. »… wir hatten keine Revolution mehr, uns blieben nur die Illusionen der Reise, des Schreibens und der Drogen«.
Hätte der Erzähler beizeiten Goethes Werther gelesen, dann hätte er über eine Alternative zur Selbsttötung nachdenken können, um nicht Werther zu imitieren. In diesem Werk Goethes finden wir ebenfalls eine Dreierbeziehung, allerdings wird diese, das ist ein wesentlicher Unterschied, nicht für immerhin zwölf Monate in Praxis umgesetzt.
Alles im allen ist dem Autor ein großartiges kleines Büchlein über Russland und seine Geschichte, über zwei Franzosen und einen Russen und deren tragische Dreierbeziehung, über die Qual des Schreibens und die Faszination des Reisens gelungen.
Zusätzliche Bemerkung des Rezensenten:
Für ein deutschsprachiges Publikum wäre es reizvoll, wenn ein Deutscher/ eine Deutsche statt einer der französischen Figuren an der Dreierbeziehung beteiligt wäre. Dann müssten die gescheiterten deutschen Revolutionen aufgenommen werden und, wenigstens in Ansätzen, die jüngere deutsche Geschichte sowie die Beziehung zwischen Deutschland und den beiden anderen Ländern.
Fordern wir also die Einrichtung eines Frankreich-Deutschland- Russland-Jahres und für interessierte Schriftsteller eine erneute Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn.
Foto:
Fährt Mathias im Sommer oder im Winter mit der transsibirischen Eisenbahn? Denn im Winter führen die Gleise nicht entlang des so wunderschönen und gewaltig großen Baikalsees, sondern werden über den meterdick zugefrorenen See gelegt - vom späten Herbst bis in Frühjahr hinein. Unglaublich, aber wahr. (c) nostalgiereisen.de
Info:
Mathias Ènard: Der Alkohol und die Wehmut, Matthes & Seitz Berlin 2016