LUTHERS JUDEN von Thomas Kaufmann aus dem Reclam Verlag
Andreas Schneitter
Zürich (Weltexpresso) - Dieses Jahr feiert der Protestantismus sein 500. Jubiläum – für Juden bedeutete die Reformation Verdammung und Vertreibung.
Die Christen wie die Juden sind Gottes Volk, betonte der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli.
Das Jubiläumsjahr begann bereits im vergangenen November: Von Genf aus startete der «Reformations-Truck» auf einen Stationsweg, der nach der Westschweiz im Januar in den deutschschweizerischen Zentren der Reformation Zürich und Bern fortgesetzt werden soll. Und dort, so formulierte es Gerhard Locher, Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes am Kick-Off in Genf, einen Öffentlichkeitsdialog über eine Bewegung lancieren, «deren kulturelle, gesellschaftliche und politische Kraft seit 500 Jahren nachwirkt.» Mit den 95 Thesen, die Martin Luther am 31. Oktober 1517 an das Portal der Schlosskirche von Wittenberg genagelt haben soll und mit denen der Theologe Praktiken der römisch-katholischen Kirche wie den Ablasshandel kritisierte, erneuerte Luther das Christentum. Und er forderte damit auch das Verhältnis des europäischen Christentums zum Judentum heraus.
In Erinnerung geblieben ist vor allem Luthers antijüdische Raserei aus seinem Spätwerk «Von den Juden und ihren Lügen», das er 1542, 25 Jahre nach den 95 Thesen, verfasste. Ihre Synagogen und Häuser solle man niederbrennen, forderte Luther da, und sie aus den Fürstentümern verjagen. Ein Jahr später nahm mit der Schrift «Vom Schem Haphoras» seine Sprache noch an Schärfe zu, indem er alte christliche antijüdische Stereo-typen rezyklierte: Die Juden planten, die christlichen Reiche zu verheeren, indem sie Brunnen vergifteten, Kinder stehlen und Fürsten meucheln würden. Einen «spezifisch vormodernen Antisemitismus» diagnostizierte der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann vor zwei Jahren mit seiner Analyse «Luthers Juden» zum Bild, das der grosse Reformator vom Judentum hatte.
Gemäss Kaufmann ist Luthers fortlaufende Radikalisierung in seinem Verhältnis zu den Juden kein Resultat der persönlichen Begegnung, sondern diente seinem theologischen Kampf gegen Rom. Noch 20 Jahre zuvor verurteilte er in seiner Schrift «Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei» (1523) die Judenfeindschaft der römisch-katholischen Kirche, ohne sich jedoch von kirchlichen antijüdischen Bildern zu lösen. Der «Starrsinn» und die «Verstocktheit» der Juden seien, glaubte Luther, Resultate der Unterdrückung und Zwangskonversionen durch die Kirche. Damals noch hoffte er, die Juden als Verbündete in seinem Kampf gegen die Kirche zu brauchen – weil nur die Korrumpierung des Christentums durch den Klerus die Juden davon abhalten würde, ihre Religion aufzugeben. «Wenn ich ein Jude gewesen wäre», so schrieb er, «und hätte solche Tölpel und wüsten Kerle den Christenglauben regieren und lehren gesehen, wäre ich eher eine Sau geworden als ein Christ.» Weil die erhoffte Hinwendung der Juden zum Evangelium jedoch ausblieb, schlug sein Werben in Raserei um.
Damit unterscheidet sich Luther insbesondere von Reformatoren in der Schweiz. «Luther wendet sich in seinen späten Judenschriften genau
gesehen gar nicht an real existierende jüdische Gemeinschaften, sondern rechnet vor allem mit seinen theologischen Gegnern ab, und die sitzen beispielsweise in Basel und Zürich», sagt der Theologe Achim Detmers. Detmers, Generalsekretär des Reformierten Bundes in Deutschland und Autor eines Übersichtswerks über das Verhältnis der Reformatoren zum Judentum, meint damit vor allem «Hebraisten, die alttestamentliche Verheissungen im Unterschied zu Luther nicht christologisch deuteten, sondern philologisch sauber als innerisraelitisch gedachte und abgeschlossene Phänomene.»
Zurückhaltende Reformatoren
Tatsächlich waren die Töne in den Schweizer Zentren der Reformation, in Zürich oder Genf, gegenüber den Juden gemässigter. Das gilt vor allem für den Zürcher Huldrych Zwingli, der wie sein Nachfolger Heinrich Bullinger die «Einheit des Alten und Neuen Bundes», also die Auserwählung der Israeliten durch Gott sowie die Heilserweiterung auf die Christen durch Jesus, hervorheben. Zwingli schreibt mit der Betonung der Einheit und der Unwandelbarkeit Gottes, dass es nur einen Bund geben könne und die Christen daher «ebenso sein Volk sind, wie Israel sein Volk war». Und von Calvin stammt der Satz: «Der Bund mit allen Vätern unterscheidet sich von dem unsrigen so wenig in der Substanz und in der Sache selbst, dass er ganz und gar ein und derselbe ist; doch die Verwaltung ändert sich.» Aus dieser theologischen Akzeptanz heraus folgte jedoch keine Akzeptanz jüdischer Gemeinschaften innerhalb der reformatorischen Gebiete: Zwingli sah die Juden aufgrund der Ablehnung von Christus als «verdammt» an, hielt sich jedoch mit theologischen oder sozialpolitischen Anschuldigungen zurück und warnte vor der Arroganz der Kirche, Juden verächtlich zu behandeln. Bullinger bezeichnete Juden zwar als Verblendete, unterstützte ihre Vertreibung jedoch nicht und wies die wütenden antijüdischen Schriften Luthers als «mörderischen Hass» zurück. Und von Calvin ist betreffend Sanktionen gegen Juden nichts zu lesen, seine Kritik beschränkt sich auf die theologische Wahrnehmung: Gott habe die Juden mit Blindheit geschlagen, weil sie an der überlieferten jüdischen Auslegung der Thora festhielten, was er als «stumpfsinnige Dummheit» abkanzelte. Da jedoch Hoffnung auf Bekehrung bestehe, sei von einer völligen Verwerfung der Juden abzusehen.
Warum diese Unterschiede zwischen Luther, Zwingli, Calvin? Detmers verweist auf zeitgeschichtliche Entwicklungen: «In Wittenberg kamen damals schwärmerische Gruppen auf, die unter Berufung auf das Alte Testament die radikale Beseitigung von Bildern aus den Kirchen forderten und aus dem alttestamentlichen Recht soziale Reformen ableiteten.» Dies führte in Wittenberg zu einer kritischen Einschätzung des Alten Testamentes. Die Schweizer Reformatoren hingegen sahen sich mit der radikalreformatorischen Bewegung der Täufer konfrontiert, die als zentrales Merkmal die Kindstaufe ablehnten. «Ihnen stellten sie die Parallelität von jüdischer Beschneidung und christlicher Taufe entgegen – und damit wiederum das Modell der Einheit des Alten und Neuen Bundes.»
«Vollständige Enterbung»
Allerdings warnt Detmers davor, die «Einheit des Bundes» als ein Postulat einer judenfreundlichen Gesinnung wahrzunehmen, «faktisch wird damit eine vollständige Enterbung zum Ausdruck gebracht». Das hatte konkrete soziale Auswirkungen, sowohl in reformierten wie in lutherischen Territorien: Vertreibungen in Sachsen oder Braunschweig gingen auf Luthers Schriften zurück. Und da die Übernahme des Protestantismus als «Staatsreligion» vom Fürsten auf die Untertanen überging, wurden die jüdischen Gemeinschaften gemeinsam mit dem römischen Katholizismus hinausgedrängt. «Auf katholischer Seite war das Verhältnis zu den Juden etwa mit Duldungsrechten und Schutzzahlungen geregelt. Zudem war der Kaiser oberster Schutzherr der Juden und Katholik. Wenn also der Kaiser in protestantischen Gebieten wie Hessen oder Sachsen seine Schutzaufgabe wahrnehmen wollte, hätte er in protestantische Territorien eingreifen müssen. Folglich machten sich diese Territorien immer unabhängiger vom Zugriff des Kaisers, und die Schutzrechte für Juden verloren an Wirkung», so Detmers. Es dauerte bis zur Aufklärung, bis infolge von Säkularisierung und Emanzipation jüdische Einwohner der ehemals protestantischen Reiche persönliche Rechte unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit erhielten, und bis zum Holocaust, als der vor allem lutherische Protestantismus von den antijüdischen Positionen seines Ahnherrs Abstand nahm. «Wenn es um das heutige protestantisch-jüdische Verhältnis geht, ist Luther kein guter Gewährsmann», sagt Detmers, «erst nach der Shoah wurde die grosse theologische Nähe zwischen Kirche und Judentum wiederentdeckt.» Eine Wiederentdeckung, die sich jedoch hauptsächlich auf die westeuropäisch-nordameri-kanischen Kirchen beschränkt, wie Detmers einräumt.
Info:
Thomas Kaufmann: «Luthers Juden», Reclam Verlag, 201
Achim Detmers: «Reformation und Judentum», Kohlhammer, 2001