Jochen Winter, Die Glut des Augenblicks, Matthes & Seitz Berlin; Teil 1/2
Thomas Adamczak
Wiesbaden (Weltexpresso) - Ein Mann wirft achtlos eine Papiertüte auf den gepflasterten Fußweg und geht unmittelbar danach achtlos an einem Papierkorb vorbei.
Beim Versuch, eine winzige Eidechse mit einem Glas einzufangen, wird diese am Fuß verletzt. Der »angsterfüllte Blick aus den schwarzen Kugelaugen« der Eidechse zerreißt dem Autor Jochen Winter fast das Herz, erweckt in ihm ein »bebendes Schuldgefühl - die schreckliche Überzeugung, das noch vor ein paar Sekunden bestehende Gleichgewicht zwischen zwei Lebewesen zerstört zu haben«. Ein »unseliger, nicht wieder gutzumachender Eingriff in den harmonischen Gang der Natur«.
Das sind zwei Textstellen aus »Die Glut des Augenblicks - Aufzeichnungen vom Ätna«, die dem Leser eine Ahnung vom Selbstverständnis des Lyrikers, Essayisten und Übersetzers Jochen Winter vermitteln.
In diesem anspruchsvollen, lesenswerten Buch des kürzlich (am 2.2.2017 in der „Volksbühne“ Berlin) mit dem Literaturpreis A und A der Kulturstiftung ausgezeichneten Autors wimmelt es nur so an Reflexionen, Meditationen, Gedankenblitzen.
Winter führt dem Leser vor, was es heißt, Descartes Devise »cogito ergo sum« wörtlich zu nehmen und unentwegt anzuwenden.
J. Winter ist vor allem Lyriker. Er hat drei Lyrikbände im Agora-Verlag veröffentlicht: »Die diamantene Stunde«, »Die Inschrift der Erde« und zuletzt »Spuren im Unermesslichen«.
Spuren im Unermesslichen (Berlin 2012) und seine poetischen Aufzeichnungen unter dem Titel Die Glut des Augenblicks (Matthes & Seitz Berlin 2017) sind, wie der Autor schreibt, „zwischen 2001 und 2016 auf dem Ätna entstanden, in intensiver Begegnung mit den Energien und Prozessen, Symmetrien und Normen in Natur und All. Angesichts des erstarrten, plötzlich eruptierenden Magmas zeigt sich, wie tief der Mensch verwoben ist in die komplexen Zusammenhänge elementarer Prozesse, die er jedoch seit Anbruch der Neuzeit im Zuge der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung eigenmächtig seinen reduktionistischen und utilitaristischen Zwecken unterwarf. Vor solchem Hintergrund gilt es, das zerstörte oder vergessene Band zwischen Mensch, Natur und All abermals zu knüpfen im Wort, Zeugnis der ursprünglichen Einheit von Idee und Empfindung. Diese Wiederherstellung erscheint umso dringlicher, als die Gegenwart, behaftet mit den Symptomen der Orientierungslosigkeit und des Sinnverlusts, des inneren Vakuums und der Einsamkeit, zum Schauplatz endzeitlicher Katastrophen jeder Art geworden ist. Demgemäß stellen die Texte einen Gegenentwurf dar zu den Aporien der erschöpften Moderne wie auch zu den heillosen Konsequenzen einer ins Virtuelle abgleitenden Wirklichkeit – ein leidenschaftliches Manifest zugunsten radikaler Umbesinnung.“
In „Die Glut des Unermesslichen“ geht es dem Autor um die Besonderheiten seiner Lyrik, und zwar um das »universale Gedicht« im Zeitalter der Globalität.
Wie hat man sich ein solches universales Gedicht vorzustellen?
Jochen Winter fordert vom Lyriker einen Perspektivewechsel. Es gehe zwar nach wie vor um den Zusammenhang zwischen Ich und Welt, aber dabei müsse der Status quo müsse überschritten werden: Die individuelle Perspektive muss global werden, denn angesichts der kosmischen Wirklichkeit hat das lyrische Ich seine autonome Stellung im Gedicht längst verloren. Winter stellt dem irdischen Auge ein kosmisches Auge gegenüber. Bei einer universalen Perspektive müssten beide Sehweisen zusammengedacht werden, um den jeweiligen Standort durch eine globale Vision zu transzendieren.
Wie denn das?
Winter konstatiert, dass das Sichtbare lediglich eine Winzigkeit des Existierenden darstellt, denn nur 5 % des Universums besteht aus Materie, 50 % sind »Dunkle Materie« und 70 % »Dunkle Energie« in einem Universum, das für den Menschen ein »namenloses Geheimnis« ist und schlechterdings unvorstellbar bleiben muss.
Lässt man sich auf einen solchen Perspektivewechsel ein, bleibt dem Menschen eigentlich nur irritiertes Staunen und das Gefühl der »Ohnmacht gegenüber dem, was ihn unendlich übertrifft«.
Jochen Winter plädiert dafür, das Ich vom universellen Raum aus zu betrachten. Dann könne von diesem Ich, also auch dem eigenen Ich, abgesehen werden, um es zu »übersteigen auf ein irdisches oder überirdisches Du hin, das die Früheren als das »Göttliche« bezeichneten«.
Bisherige Gedichte seien zu sehr im Irdischen verwurzelt. Stattdessen sollten sie offen sein für Überirdisches. Das Ziel einer solchen universalen Lyrik sei die »Bewahrung« dessen, »was uns atmen, sehen, auf der Erde leben lässt«. Winter geht auf die kosmische Trinität von Gas, Staub, Licht und den Urknall vor fünf Milliarden Jahren ein, als Dunkle Energie über die Gravitation triumphierte und sich das Universum zu unermesslicher Größe auszudehnen begann.
Der Autor stellt sich vor, dass wir unsere eigene Endlichkeit mit der Idee des Unendlichen »durchfluten« und daran das Leben ausrichten. Dann wäre die Erde, das ist seine Hoffnung, eine »friedlichere Stätte«.
Lyrik im Zeitalter der Globalität braucht für den Autor eine »abgründige existenzielle Dimension«, die er in den Gedichten der seelenverwandten Autoren Giannis Ritsos, Nâzım Hikmet, Rene Char und Paul Celan findet.
Der Globalisierung liest der Autor vehement die Leviten. Das Universelle sei dem Wesen dieser Globalisierung entgegengesetzt. Globalisierung isoliere die Individuen, zwinge zu gnadenloser Konkurrenz, führe zu Ressourcenvernichtung, trachte danach, »wahrhaft lokales und globales Denken« zu tilgen.
Globalisierung verwandle die Menschen in eine beliebig steuerbare Masse, die in unheilvoller Weise auf Konsumtion und Mobilität fixiert sei. Sie tobe sich in einem Kampf aller gegen alle aus. Vom universalen Gedicht erhofft er sich, dass es ein dem Gift der Globalisierung »ebenbürtiges Gegengift« sei, das sich der Utilität und der Effizienz entzieht, unter anderem weil es keinen »Warencharakter, keinen Marktwert« hat.
Vermag eine hier lediglich skizzierte Programmatik dieser sich universell verstehenden Lyrik im Zeitalter der Globalität zu überzeugen?
Fortsetzung folgt
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