Jochen Winter, Die Glut des Augenblicks, Matthes & Seitz Berlin; Teil 2/2


Thomas Adamczak


Wiesbaden (Weltexpresso) - Verwiesen sei an dieser Stelle auf eine ganz andersgeartete Programmatik, wie sie vom Doyen der modernen amerikanischen Poesie William Carlos Williams vertreten wird: »Was die Leute zu sagen versuchen, was sie uns, unablässig und vergeblich, zu verstehen geben wollen, ist das Gedicht, das sie in ihrem Leben zu verwirklichen trachten.«


Ein sympathisches Konzept! In jedem Menschen eine Persönlichkeit zu sehen, die in ihrem Leben quasi ein Gedicht zu verwirklichen trachtet, d.h. ja wohl, ihrem Leben einen unverwechselbaren Sinn geben möchte.


Jochen Winter geht im Vergleich dazu einen in der Konsequenz verblüffenden nächsten Schritt weg vom einzelnen Individuum, das bei C.W.Williams  im Gedicht porträtiert wird. Das Sub-jekt ist für ihn im Wortsinn das »schlechthin Unterworfene«, das zum Subjekt geworden ist. Das Maschinengewehrfeuer der Werbung unterziehe die Menschen einer Gehirn- und Seelenwäsche. Die innere Natur des Menschen laufe mehr und mehr Gefahr, durch »öde, selbstgefällige Zufriedenheit mit der Gegenwart« abzustumpfen. Unbändige Bedürfnisbefriedigung und schrankenloses Machtstreben trügen zur Dehumanisierung bei. Verlusterfahrung von Sinn ersticke die Menschen allmählich. Die Einzigartigkeit von Individuen droht verloren zu gehen.


Winter räumt ein, dass das heutige Ich  häufig durch frühere Erschütterungen tief verletzt sei. Persönliche Demütigungen, Schrecknisse und Ängste würden schreibend auf die Wirklichkeit  übertragen. Das sei, folgert Winter, zwar verständlich, allerdings verzerre diese verengte Sicht Wirklichkeit, entstelle sie gar bis zur Unkenntlichkeit. Die Autoren, die das leidende Ich ins Zentrum stellten, verschafften sich eine gewisse Erleichterung und Genugtuung, manchmal auch die Befriedigung tiefsitzender Rachegefühle, sie würden aber der unerschöpflichen äußeren Welt nicht gerecht.


Das aber ist Winters Anspruch, weswegen zu seinem Programm als Lyriker gehört, vom eigenen Ich abzusehen, er also den im eigenen Ich befangenen Autor negiert, denn das Ich sei nichts ohne das Andere in mannigfaltiger Gestalt, ohne die Anerkenntnis der Spuren des Unermesslichen.


Winter sucht Sinnhaftigkeit im Universum. Dieser zeige sich im kosmischen Gewebe, zu dem Staubkorn, Grashalm, Sterne, Wellen des Meeres, die Zellen der Körper, alle Blumen und Pflanzen gehören, all das über das Universum miteinander verbunden.


Ähnlich wie intensive Naturerfahrungen ermöglichen Gedichte, Meditationen oder Gebete ein Innehalten und Besinnung. Winter empfiehlt, sich der übernatürlichen Wirklichkeit zu öffnen, er bevorzugt den kosmozentrischen, statt eines geozentrischen bzw. anthropozentrischen Blicks.


Abschließend soll Jochen Winter mit zwei typischen Zitaten und einem Gedicht aus seinem letzten Lyrikband »Spuren im Unermesslichen« zu Wort kommen.
»Halte inne und besinne dich, sei der Augenblick, tue nichts, was dich davon abbringt; ihn nur besitzt du, er nur beseitigt die Trennwand zwischen dir und dir selbst, dir und dem Anderen, dir und der Erde, dir und dem All. So erst kannst du sein …«


»Gib, ungeachtet deiner Niederlagen und Enttäuschungen, jedem Menschen, nicht nur dem geliebten, soviel du kannst, tue es auch darin der Natur nach,…«

UNGETEILTE  HERRSCHAFT
Was ist das Wissen des Menschen?

Weiß er Wurzeln zu treiben und
Zweige und Blätter, lotrecht zum
Licht zu steigen, ein lodernder
Strahl, den Gewalten standhaltend?

Was ist die Schöpfung des Menschen?

Schöpft er Atem aus Atem von
Totem, Pulsschlag im ädrigen
Werk der Körper, Beseeltes, den
Sternen entnommen, mitschwingend?

Unter der Erde und über ihr
Herrscht, was Strom ist und unerkannt.

 

Foto: Jochen Winter (c) deutschlandradiokultur.de


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