Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Februar 2017, Teil 11
Werner Thala
Berlin (Weltexpresso) - Das sollte man schon jeweils klarstellen, ob erst das Buch da war oder ob nach dem Film ein Buch zusammen mit den Filmbildern und oft auch mit Filmhörspiel etc. herauskommt. Der heute anlaufende Film LION verfilmt dies Buch.
Die Fotos im Buch können zeigen, wie dicht die Filmgeschichte an damals heranreicht und wie ähnlich die Darsteller dem Original vor 25 Jahren kommen.
Er heißt also Saroo Brierley, der hier seine unglaubliche Geschichte erzählt. So steht es auf dem Titel, im Inneren kommt ein Koautor hinzu: Larry Buttrose. Aber das muß uns nicht weiter kümmern, denn Verlage machen die Manuskripte gerne ein wenig glatter, weil schreiben gelernt sein will – und dagegen hat ein Journalist, dessen Profession das Schreiben eigentlich nichts. Denn hier geht es nicht um literarische Ehren, sondern darum, daß diese Geschichte spannend durcherzählt wird, daß ein Interesse für die Personen entwickelt wird und bestehen bleibt, daß diese ungewöhnliche und dramatische Lebensgeschichte also einsichtig und stringent erzählt wird.
Peinlich, aber man muß es zugeben. Ohne den Film hätte ich das Buch nicht gelesen, selbst wenn ich davon gehört hätte. Es gibt so viele Schicksale, die besonders - besonders glücklich, besonders schlimm – sind, so daß man nicht alles erfassen kann. Aber, wenn man den Film gesehen hat, haut einen das, was dann so Schicksal genannt wird, einfach um. Wenn man zum Beispiel Kinderaugen sieht, die in der unvermittelten Fremde die Heimat suchen, Kinder, die heimlich am Rande der Gesellschaft leben, was diese heimat- und familienlosen Kinder noch lieber wollen, als in Heime abgeschoben zu werden.
Überhaupt nicht peinlich dagegen, daß man nun trotz der persönlichen Bilder im Buch vom Verfasser stattdessen immer den tief beeindruckenden Kinderdarsteller aus dem Film und den späteren Halberwachsenen vor Augen hat, wenn der Ich-Erzähler in 13 Kapiteln mit Prolog und Epilog seine Geschichte erzählt.
Im Prolog wird der Höhepunkt vorweggenommen.“Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich mir diesen Tag in Gedanken ausgemalt. Eine halbe Welt entfernt von hier aufgewachsen, mit neuem Namen und in einer neuen Familie, fragte ich ich immer wieder, ob meine Mutter, meine Brüder und Schwestern jemals wiedersehen würde. Nun bin ich hier, steh in einem ärmlichen Viertel einer kleinen staubigen Stadt in Zentralindien vor einem heruntergekommenen Haus, in dem ich meine ersten Jahre verbrachte...“
Das Haus hat er gefunden. Und dann wird es gleich am Anfang spannend: das Haus ist leer, wie die ganzen ärmlichen Gebäude darum herum. Er befragt Leute, was schon sprachlich große Mühe macht, denn sein Hindi hat er verlernt, gerät dann aber an jemanden, der zu ihm sagt: „Folgen Sie mir. Ich führe Sie zu Ihrer Mutter.“ Wer nun aber glaubt, dem Zusammentreffen könne er nun beiwohnen, hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und hieran erkennt man auch das, was man Ghostwriter nennt, denn jetzt geht es mit Kapitel 1 weiter, das zwar ERINNERUNGEN heißr, aber eben nicht die Kindheitserinnerungen zum Thema hat, die im Film kontinuierlich die Geschichte erzählen, sondern von Hobart/Australien spricht, wo der Junge aufgewachsen ist und seine Mum, die Adoptivmutter, ihm eine Karte von Indien und lauter indische Gegenstände in sein Zimmer gestellt hatte.
Der Junge hatte seinen Heimatort als ‚Ginestlay‘ bezeichnet und auch so in Erinnerung behalten. Die australische Familie aber hatte aus Indien zur Adoption einen Jungen aus Kalkutta geschickt bekommen und gingen deshalb davon aus, daß Saroo auch daher stamme. Erst ein Jahr nach seiner Ankunft in Australien und nachdem er Englisch sprechen kann, erzählt der Siebenjährige den Adoptiveltern seine Geschichte. Wie er mit der Familie lebte, mit dem Bruder im Zug fuhr, nur mal im Bahnhof bei ‚Ginestlay‘ in den Zug stieg, dort schlief und der Zug einfach losfuhr. Seine lange Eisenbahnfahrt, die ihn wohl quer über den indischen Kontinent führte und in Kalkutta endete. Damit hatte es sich damals, denn es ging vorrangig darum, daß sich Saroo in der australischen Gesellschaft integrierte, wobei zwar das Wissen über seine Heimat und seine Herkunft bekannt sein sollte, aber nur als Information, ohne dies für das weitere Leben zu nutzen.
Das führt noch in der Kindheit zu kleinen Zusammenbrüchen des Jungen, wenn ihm klar wird, daß er schon wieder etwas von seinem Zuhause vergessen hat, zum Beispiel welchen Weg er vom Haus aus zur Schule nahm. Er versucht dann, seine Erinnerungen durch ständiges Neuerinnern zu festigen, was ihm gelingt. Aber das steht im Widerspruch zu seinem richtigen Leben. Er muß Englisch lernen, die Sitten und Gebräuche einüben, Land und Leute kennenlernen und vor allem nach vorne denken und nicht in die Vergangenheit träumen.
In diesem Widerstreit wird er groß, und hat ‚Rückfälle‘ bis zu Tränen immer dann, wenn etwas Spezielles seine Erinnerung in Gang setzt, beispielsweise als seine Adoptiveltern ihn in einen Film mitnehmen, der ‚Salaam Bombay!‘ heißt und ausgerechnet von dem Schicksal eines kleinen Jungen in einer indischen Großstadt handelt, der seine Mutter sucht – oder, wenn er kinderreiche Familien sieht. Dann denkt er an zu Hause und ist traurig.
Und doch, immer wieder unterbricht den australischen Alltag die Rückerinnerung, die sich in Saroo ihren Weg bannt und von der Adoptivmutter und der Lehrerin unterstützt, schriftlich und im Bild festgehalten wird, was ihm später nützen wird.
Und dann beginnt mit AUS DEN AUGEN VERLOREN die eigentliche Erinnerung, diejenige, die der Film von Beginn an kontinuierlich erzählt. Allerhand, was der verlorengegangene Fünfjährige in den Jahren drauf festhalten konnte. Seine Schwester Shekila, auf die er aufpassen mußte. „Meine Mutter war eine Hindu, mein Vater Muslim – ihre Ehe war eine ungewöhnliche Verbindung zur damaligen Zeit, und sie hielt auch nicht lang.“ Und er erinnert sich an seine beiden Brüder älteren Guddu und Kallu. Guddu ist derjenige, den wir als Beschützer im Film erleben und auch im Film erfahren, daß er jung starb. Ihm widmet der Verfasser sein Buch.
Im Film wundert man sich nicht, wenn seine Kindheit erzählt wird, daß wir das alles mit eigenen Augen sehen können. Im Buch dagegen staunt man über den Detailreichtum, wie die Welt von damals vor den Augen ersteht. Und wundert sich, was der kleine Junge alles noch weiß. Das ist natürlich töricht, denn das Buch schreibt der Erwachsene, der seine Heimat und seine Familie wiederfand, sie besuchte und das nicht nur einmal. Der kann jetzt farbig vom ganzen Viertel, einem muslimischen, erzählen, von den armen Leuten, den ungepflasterten Straßen, den Hunden, vor denen er Angst hatte, den Ziegen, den Hühnern. Seine Mutter verdient den Lebensunterhalt mit Steineschleppen - auf dem Kopf übrigens - , die Kinder helfen. Kleine Erlebnisse lockern das Lesen auf, denn wir erfahren viel über das arme, aber bunte Leben und das ist nur der Anfang einer unglaublichen Lebensgeschichte, die – anders als die meisten Geschichten vom Verlust seiner Heimat und seiner Familie
Info:
Der lange Weg nach Hause von Saroo Brierley im Ullstein Verlag