ist in Frankfurt am Main angekommen - endlich!

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Martin Wimmers Buch „Ich bin der neue Hilmar und trauriger als Townes“ beweist unsere geistige Nähe zu den USA.

Jedenfalls zu jenen Vereinigten Staaten, die den Jedermann-Revolver, die Todesstrafe, das evangelikale Gebetsfrühstück, den militärisch-industriellen Komplex, den Rassismus und andere Bestandteile der vermeintlich freien Welt rechts liegen lassen, gar auf dem Müllberg der Historie entsorgen, und die wir wegen ihrer demokratischen Ideale, wegen ihrer wegweisenden Beiträge zur Weltliteratur, wegen ihrer epochalen Filme und nicht zuletzt wegen ihrer Musik bewundern und häufig sogar lieben.

Bereits beim Lesen des ersten Kapitels („Dérive“) schoss mir Don McLean durch den Kopf. Nämlich sein Song „American Pie“. Heißt es darin doch: „A long, long time ago / I can still remember / How that music used to make me smile.” Doch Martin Wimmer unternimmt keinen Abgesang auf eine musikalische Epoche, wie weiland McLean auf Buddy Holly: „The day the music died.“ Nein, die Musik lebt und mit ihr all jene, die sie hervorgebracht haben. Einschließlich des traurigsten aller Singer und Songwriter, des gleichermaßen genialen und depressiven Townes Van Zandt, an den auch der Buchtitel erinnert und der im Innern ausführlich gewürdigt wird.

Im Titel ebenso hervorgehoben wird Hilmar Hoffmann, der mittlerweile legendäre ehemalige Frankfurter Kulturdezernent, der die „Kultur für alle“ zum Ziel einer demokratischen Politik erklärte. Und Martin Wimmer hat diesen Anspruch für sich verinnerlicht:

„Mein kulturpolitisches Programm ist, ein Buch wie dieses hier zu verfassen. Dass jeder Mensch die Bildung dazu erhält, die freie Zeit, die finanziellen Mittel, die technische Ausrüstung, das Netzwerk an Freunden, die ästhetischen Erfahrungen in allen Bereichen der Kunst, die Freiheit, in Raum und Zeit zu reisen, dass die allgemeine Anarchie es zulässt, im öffentlichen Diskurs private Leidenschaften zu pflegen. Jeder Mensch, Kultur von allen, darunter mache ich es nicht.“
Dies ist in der Tat ein „Plädoyer für ein wildes, freies Leben voller Liebe“, wie Wimmer sein Buch selbst charakterisiert.

Und dann taucht er voller Selbstironie ein - in ein Leben zwischen Mühldorf am Inn, das in Bayern liegt, im „Kulturdreieck Braunau-Dachau-Altötting“ (Originalton Wimmer), Texas, den Hillbilly-Staaten mit ihrer Old-Time-Music und Frankfurt am Main, unter dessen Pflasterstrand noch manche ungehobenen Kulturschätze zu liegen scheinen. Manchmal liegen sie sogar auf der Straße und kaum einer sieht sie - außer Martin Wimmer.

Eigentlich taucht er gar nicht ein in sein Leben und das Leben anderer, vielmehr schweift er umher, gleitet ab, so wie es die erste Kapitelüberschrift ankündigt. Und lässt sich dabei inspirieren von den amerikanischen Country-Songs und deren Interpreten. Folglich warten an den unzähligen Wegkreuzungen dieses Buchs Leute wie Willie Nelson, Hank Williams, Johnny Cash, Jerry Jeff Walker, Randy Erwin und viele, viele andere.
Ganz im Hintergrund höre ich, der Leser, auf den immer heftiger Töne und Melodien eindringen, die zwischen den Zeilen platziert scheinen, den Gesang Mitch Millers, der mit seiner Marschtrommel das Traditional „The Yellow Rose Of Texas“ intoniert. Der Inhalt dieses Liedes kreist um die Geburtslegende der Republik Texas, die sich aus mexikanischer Herrschaft befreite und wenige Jahre später Teil der USA wurde. Eine Strophe lautet:
„Where the Rio Grand is flowing and the starry skies are bright / She walks along the river in the quiet summer night.” Heute würde sich dieser gelben Rose, einem Halbblut, am Ufer des Flusses ein Stahlzaun in den Weg stellen, den Donald Trump zur perfekten Mauer ausbauen möchte. Texanische Freiheit anno 2017.

Ja, die Erinnerung. Und so erfahren wir bzw. wird unserem Gedächtnis auf die Spur geholfen, dass viele populäre deutsche Schlager der 50er und 60er Jahre Coverversionen amerikanischer Country-Hits waren. Aus Guy Mitchells „Heartaches By The Number“ wurde „Ich zähle täglich meine Sorgen“ (Peter Alexander). Johnny Cashs berühmtes „Ghost Riders In The Sky“ lieferte die Vorlage zu „Geisterreiter“ (Ronny). Johnny Prestons Nummer1-Hit „Running Bear“ hieß in der deutschen Übersetzung „Brauner Bär und weiße Taube“ und wurde 1960 zum ersten Erfolg von Gus Backus. Und wer weiß heute noch, dass sich hinter Jürgen Drews Millionenerfolg „Ein Bett im Kornfeld“ der Country-Song „Let Your Love Flow“ von den Bellamy Brothers verbirgt?

Martin Wimmer erweist sich als ein hervorragender Kenner der Country-Musik-Szene. Und so verwandelt er sich in „Willi Ehms“ (das man „Williams“ aussprechen muss, um hinter den Sinn zu kommen) und wagt sich an die Übersetzung von Bob Dylon-Songs ins Bayerische. Aus „If You See Her, Say Hello“ und „Shelter From The Storm“ entstehen das Medley. „Sag a scheen gruaß wennst as siehgst“ und „kumm her, hods gsogt, i hoid di – fest, i hoid di – zsamm“.
Angesichts dieser Überraschungen verwundert es den Leser auch nicht mehr, wenn er erfährt, dass der Autor einst sogar selbst Platten aufgelegt hat, selbstverständlich unter einem symbolträchtigen Pseudonym: DJ Borderline. Seine 100 selbstverfassten Songtexte erscheinen in diesem Kontext als irgendwie selbstverständlich und eigentlich keiner besonderen Erwähnung wert.

Es bereitet ein großes Vergnügen, dieses Buch zu lesen. Vorausgesetzt, man besitzt gewisse Affinitäten zur US-amerikanischen Pop-Musik, hat Freude an Sprachspielereien und ist dazu bereit, sich auf die manchmal intuitiven Sprünge Wimmers von der Musik zur Politik und zur Kultur und wieder zurück einzulassen.
Dieses Buch atmet Zukunft. Und es ist eine Zukunft, die ihre Visionen und ihre Kraft aus einer turbulenten Vergangenheit zieht. Wer sein bisheriges Leben nicht im Grab der Lebendigen verbracht hat, kann spontan mitlesen und mitmachen.

 

Info:

Martin Wimmer
Ich bin der neue Hilmar und trauriger als Townes
ca. 285 Seiten. Paperback. Ladenpreis 22 Euro
Frankfurt am Main 2016
Weissbooks
ISBN 978-3-86337-130-2