Stephan Hebels neues Buch „Mutter Blamage und die Brandstifter“

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Stephan Hebel zitiert im Vorwort zu seinem soeben erschienenen Buch eingangs den Dramatiker und Schriftsteller Max Frisch:


„Ich bedaure es aufrichtig, dass man gerade in den unteren Klassen immer noch von Klassenunterschied schwatzt.“ Das ist eine Passage aus „Biedermann und die Brandstifter“. Tatsächlich leugnen Biedermänner und Biederfrauen seit jeher gesellschaftliche Konflikte, selbst wenn diese längst ihre persönliche Sphäre erreicht haben. Trotzdem reden sie sich die eigene Welt schön, verbreiten einen verlogenen Optimismus und sind sogar bereit, mit jenen zu paktieren, welche die Störung der spießbürgerlichen Ruhe instrumentalisieren, um ihre eigenen, meist völlig anders gelagerten Interessen durchzusetzen.

Diese Lagebeschreibung trifft auf die Politik der Großen Koalition zu und ihr verhängnisvoller Charakter wird auch nicht gemindert durch die vermeintlich liberale Flüchtlingspolitik der Kanzlerin.

In Deutschland verpflichtet das Grundrecht auf Asyl jede Regierung dazu, politisch Verfolgten Schutz zu gewähren, aber es ersetzt nicht die Regeln eines (Dank CDU/CSU nicht vorhandenen) Einwanderungsgesetzes. Darum gehörte Arroganz und Instinktlosigkeit dazu, angesichts der Zuwanderung Hunderttausender die nur auf den ersten Blick menschenfreundliche Devise „Wir schaffen das“ zu verkünden. Denn bereits seit Jahren wird das soziale Netz für die inländischen Opfer des Neoliberalismus (beispielsweise für die Langzeitarbeitslosen, die Hartz IV-Aufstocker, die Leiharbeiter, die Alleinerziehenden etc.) Tag für Tag durchlässiger.

Jedem, der auf Transferleistungen angewiesen ist, wird zugemutet, den bürokratischen Aufwand formal (und das bedeutet vor allem sprachlich, schriftlich und im Sinn zielorientierten Handelns) bewältigen zu können (denn Unwissenheit schützt in unserem Rechtssystem nicht vor Nachteilen, schon gar nicht vor Strafe). Diesen Menschen muss es wie ein Hohn erschienen sein, wenn den Fremden anscheinend mehr Sympathien entgegengebracht wurde („Refugees are welcome“) als jenen Bundesbürgern, die ebenfalls mühselig und beladen waren(und es noch sind) und deren Zukunft düster erscheint.

Wer seine Wohnung nicht mehr bezahlen kann, weil Wohnraum zur Spekulationsware verkommen ist (trotz der Sozialbindung des Eigentums), erhält den Rat, an den Stadtrand oder aufs Land zu ziehen. Also exakt dorthin, wo man sich nur im begrenzten Umfang versorgen kann und wo die Anbindungen an die Zentren bereits vor Jahren drastisch reduziert oder eingestellt wurden. Ausgerechnet in diesen Randlagen entstehen häufig Sammellager für Flüchtlinge und unterstreichen die Reservatfunktion solcher Gegenden. Das gegenseitige Nichtverstehenkönnen der unfreiwilligen Nachbarn, das sprachlich und kulturell bedingt ist, wächst und steigert sich allzu häufig bis zum Hass. So schafft die Politik Steilvorlagen für rassistische Gewalttäter. Weiß man doch spätestens seit den sozialistischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts: Humanität gedeiht nur dort, wo es keinen täglichen Kampf ums Dasein gibt. Und wer lieber der Weltliteratur vertraut, sei auf Gottfried Kellers Märchen „Spiegel, das Kätzchen“ verwiesen.

Wer die Bildungsmöglichkeiten entweder nicht nutzte oder wem sie verwehrt wurden und sich trotzdem damit nicht abfinden will, wird eher ausnahmsweise erfolgreich sein. Seit Schröders Agenda-Politik bleibt den Menschen aus nicht mehr nachgefragten Berufe sowie den Geringqualifizierten häufig nur die Alternative zwischen Mindestlohnniveau und Hartz IV, was unter dem Strich auf die Wahl zwischen Pest und Cholera hinausläuft und in der garantierten Altersarmut endet. Wegen der Zahl der Zuwanderer könnte sich dieses Problem noch verschärfen. Denn die unter den Neuangekommenen zumindest anfangs vorhandene Bereitschaft, jede untergeordnete Tätigkeit zu jedem Lohn anzunehmen, wird in bestimmten Bereichen das Ende aller sozialen Errungenschaften sein. Und ich frage mich, wie viel sozialer Sprengstoff bewusst oder leichtfertig noch angehäuft werden soll.

Stephan Hebel attestiert der Kanzlerin, dass sie an den entscheidenden Stellen, und nicht zuletzt auch in der Flüchtlingsfrage, eine wirtschaftsliberale, die sozialen Brüche noch verstärkende, Politik betreibe. Und er hält es für an der Zeit, sowohl den rechten Ideologen als auch dem neoliberalen Kapitalismus wirkliche Alternativen entgegenzustellen, statt ein „Weiter so“ zu propagieren.

Wenn man auf der Basis der aktuellen Situation und ohne Berücksichtigung innovativer politischer Maßnahmen ein Szenario entwickelt, ist die Perspektive düster:
Die Mehrheit der Flüchtlinge, die hierzulande auf ein besseres Leben hoffen, wird nicht in den Genuss eines solchen kommen. Zum einen deswegen, weil sie die sprachlichen und beruflichen Voraussetzungen selten erfüllen. Zum anderen, weil sie zwangsläufig ein Kultur- und Religionsverständnis importieren, das der gleichberechtigten Teilhabe aller an der säkularen Gesellschaft entgegensteht; schließlich musste letzteres gegen massive Widerstände über mehrere Generationen hinweg erst erkämpft worden.

Die Flüchtlinge werden die Arbeitssklaven dieses Landes sein und die abgehängten Einheimischen werden sich mit ihnen um das tägliche Brot streiten. Dies wird die Furcht der Mittelschichten vor einem sozialen Abstieg bis zum Wahn ansteigen lassen. Viele sehen bereits heute in den Rechtspopulisten, also den Rechtsradikalen in neuen Kleidern, ihre Rettung. Diese Verteilungskämpfe lenken von der historisch notwendigen Auseinandersetzung ab, nämlich von der Lösung des immer folgenreicheren Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit.

Die gesellschaftlichen Prozesse, auch die aus dem Ruder gelaufenen, werden betriebswirtschaftlich, also von Eigeninteressen geleitet, angegangen. Gelassen schaut man der jeweiligen, in der Regel selbst verschuldeten, Katastrophe zu. Statt sie abzuwenden, was die Infragestellung der bisherigen Politik bedeutete, lässt man es zu, dass sich Dinge nach eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln. Sehenden Auges wird das Weltklima zerstört, im höheren Interesse (Börsenkurse, Arbeitsplätze in nichtökologischen Bereichen etc.) führt man Kriege um Rohstoffe und Einflusszonen und wird dadurch Geburtshelfer von Terrororganisationen. Höchstselbst bereitet man den Boden für Flucht und Armutswanderung und wundert sich, dass die Menschen tatsächlich und trotz Hindernissen vor Europas Grenzen ankommen. Als Ultima Ratio wird dann versucht, die Flüchtlingsfrage marktwirtschaftlich zu regeln, also zu den Bedingungen, unter denen die Krisen ursprünglich entstanden sind.

Es war - und dies wird in Stephan Hebels Buch deutlich - keine humane Strategie, die im September 2015 verfolgt wurde. Es war die Verwunderung über das eigentlich vorhersehbare Dilemma. Denn wer an die aggressivsten und undemokratischsten Staaten der Welt Waffen verkauft, darf nicht auf Frieden hoffen. Und erst recht nicht darauf, dass dieses Handeln folgenlos bleiben würde.

In Hebels Buch fehlt mir (aber möglicherweise wollte er das Thema zunächst ausklammern) ein Programm, das sich an den Entschluss, die Verhältnisse von Grund auf zu ändern, anschließen müsste.
Nach meiner Meinung, und diese Erkenntnis ist ein Resultat der Lektüre des Buchs, müssen die Arabische Halbinsel und Afrika entwaffnet werden. Im gleichen Maße wären zivile und demokratische Strukturen nach dorthin zu exportieren, was den geplanten Sturz von Herrschaftssystemen einschließt (eine zeitgemäße Aufgabe von UNO und NATO). Diese Anstrengung wird insbesondere Europa leisten müssen, weil vor allem hier die Folgen der bislang verfehlten Politik immer spürbarer werden. Die EU könnte sich unter dem Druck der (erzwungenen) Vernunft sogar neu formieren und auf politische und finanzielle Erträge aus sinnvollen Investitionen hoffen.

Und die Flüchtlinge? Für sie und mit ihnen sollte eine (am Vorbild der zionistischen Bewegung orientierte) Alt-Neuland-Vision entwickelt werden. Sie müssen hier und in anderen europäischen Ländern den verbrieften Schutz vor Verfolgung und Krieg ohne Abstriche erhalten. Einige von ihnen, vor allem jene, die mit den kulturellen und religiösen Tabus ihrer Heimatländer zu brechen in der Lage sind, werden hier bleiben und sich in die Gemeinschaft einzubringen verstehen. Der (vermutlich) größere Teil aber sollte bereits jetzt und von Europa aus auf die künftige Gestaltung der Heimatländer vorbereitet werden. Dort warten Trümmerlandschaften, aber wenn es dabei nicht bleiben soll, bedarf es exakt der Menschen, die dort zu Hause sind.


Info:

Stephan Hebel
Mutter Blamage und die Brandstifter
Das Versagen der Angela Merkel — warum Deutschland eine echte Alternative braucht
Westend Verlag, Frankfurt am Main
Erschienen April 2017
Ladenpreis 18,00 EUR
256 Seiten. Paperback
ISBN 978-3-86489162-5

Stephan Hebel, langjähriger Redakteur der "Frankfurter Rundschau" und politischer Autor, ist seit fast drei Jahrzehnten Leitartikler und Kommentator. Er schreibt unter anderem auch für Deutschlandradio, "Freitag", "Publik Forum" und weitere Medien.