Fethi Benslama, Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt, Matthes & Seitz
Thomas Adamczak
»Wie bitte?!«
»Du stirbst, heute noch.«
»Was? Spinnen Sie? Verrückt geworden?«
»Ich sage dir nur, dass du gleich sterben wirst, egal, ob du mir glaubst oder nicht.«
»Wie denn, weshalb denn? Ich habe Ihnen doch nichts getan! Und mein Kind, meine Frau?«
»Die sterben auch, mit dir zusammen. Gerade habe ich den Sprengstoffgürtel gezündet.« »Ich halte, um auf Nummer sicher zu gehen, mit dem Lastkraftwagen genau auf dich und die Gruppe von Leuten zu, in der du stehst.«
An dieser Stelle, spätestens jetzt, wird es Zeit, innezuhalten. Zwei Selbstmordattentäter kurz vor einem Terroranschlag. Der Gürtel ist gezündet, das Lastwagen fährt mit hoher Geschwindigkeit in eine Gruppe von Menschen.
Die Entscheidung ist gefallen. Wieder sterben etliche völlig unschuldige Menschen. Eben noch waren sie ahnungslos, hätten sie nicht für möglich gehalten, dass ihr Leben so schnell beendet sein könnte. Wer rechnet schon damit, wenn er auf einen Markt geht, dass Selbstmordattentäter genau diesen Ort für ihr Vorhaben ausgesucht haben?
Die beiden Attentäter haben sich entschieden zu sterben. Sie wollen wie alle anderen islamistischen Selbstmordattentäter möglichst viele Menschen mit in den Tod reißen. Sie haben sich ihren Entschluss überlegt. Reiflich überlegt?
Lassen wir sie zu Wort kommen. Sie sollen uns Einblick geben in ihre Gedankenwelt, damit wir eine minimale Chance haben zu verstehen, was uns unverständlich vorkommt. Wieso rufen sie, uns tötend, „Allahu Akbar”? Lassen wir sie sprechen!
Ein Selbstmordattentäter spricht:
»„Allahu Akbar”! Gott ist groß! Er handelt durch uns. Weil ER in uns ist und durch uns tun lässt, was getan werden muss, sind wir ohne Angst, ohne Angst vor dem Tod. Wir haben kein Mitleid mit denen, die sterben werden. Wir unterstehen Gottes Gesetz. Nur sein Gesetz zählt für uns. „Allahu Akbar”!
Wir töten im Namen der göttlichen Gerechtigkeit. Wir sind die Vollstrecker dieser Gerechtigkeit. Endlich haben wir das Gefühl, mit unserem ganzen Herzen Muslime zu sein, mit all unserer Kraft, mit all unserem Willen. Es war ein langer Weg, bis wir uns der wahren Tugend des Muslimseins nähern konnten. Mit unserem Tod, dem Tod all derer, die wir in den Tod mitnehmen, haben wir unser Ziel erreicht. Dafür mussten wir lernen, die Ungläubigen zu hassen. Unser Hass gibt uns Kraft. Unsere Liebe, die es uns ermöglicht zu hassen, befähigt uns, den Tod dieser Menschen und unseren eigenen Tod zu genießen. Ihr versteht das nicht, aber es ist so, wir genießen unseren Tod, indem wir uns opfern, für die heilige Sache des Islams opfern.
Wir sind Partisanen des Weltterrors des Dschihad, an dessen Ende die Erschaffung eines Kalifats stehen wird, in dem endlich die ideale Gemeinschaft der wahrhaft gläubigen Muslime verwirklicht werden wird. Wir spotten über eure Vorstellungen von Recht und Gesetz. Wir anerkennen ein anderes Recht, unser göttliches Recht. Wir anerkennen nur eine Gewalt, und zwar die göttliche Gewalt. Das ist eine Gewalt, die außerhalb eurer Vorstellungen von Recht und Gesetz liegt.
Die Grenze zwischen Leben und Tod interessiert uns nicht. Euer Tod ist nicht unser Tod. Unser Tod als Märtyrer wird uns unsterblich machen. Für uns ist es ein Glück, diese schändliche Wirklichkeit, in der wir bis jetzt lebten, hinter uns lassen zu können. Unser Tod schenkt uns ein neues, ein höheres Leben.
Wir entscheiden über Leben und Tod im Namen des Höchsten, des Größten. Wir zerstören eure Welt. Wir zerstören Schritt für Schritt eure Konventionen, eure Institutionen, eure Staaten. Das Chaos, das entsteht, ist ein von uns gewolltes Chaos. Das, was für euch Gräueltaten sind, ist für uns ein Lobgesang auf IHN.
Das, was für euch Politik ist, ist für uns ein Nichts. Wir wollen das Ende der Politik, das Ende eurer Politik. Wir wollen ein neues islamisches Kalifat errichten, das keine Politik braucht, denn Allah steht über jeder Politik.
Wir werden den Beginn einer neuen Welt erleben, einer Welt des Islam. Um dorthin zu gelangen, gilt es das Chaos ausbrechen zu lassen und dieses Chaos zu durchwaten. Wir werden die falsche Welt ausrotten, damit eine neue entstehen kann. Eure Welt verdient es, dass sie untergeht. Diese eure Welt ist eine Welt voller Lüge und Heuchelei. Sie ist korrupt und abgrundtief schlecht.
Wir sind stolz auf unser wahrhaftes Muslimsein, auf unseren unerschütterlichen Glauben. Allahu Akbar. Gott hat uns gefunden, er hat uns erwählt, wir töten für ihn. Indem wir töten, vereinigen wir uns mit IHM.
Wir werden ein Königreich errichten, in dem der Religion des Islam die Macht zurückgegeben wird. Uns Muslimen wurde unser religiöses Erbe gestohlen, aber wir sind auf dem Weg, es uns wieder anzueignen. Dafür leben, sterben, töten wir. Uns kann nichts und niemand aufhalten. Wir verkörpern das Ideal wahren Muslimseins.
Wir sterben, wir sterben mit Freude. Euer Tod ist unser Lohn.«
Dieser konstruierte Monolog eines Selbstmordattentäters ist das Ergebnis der Lektüre von Fethi Benslamas außerordentlich lesenswertem Buch »Der Übermuslim«. Der Autor versucht darin das Phänomen der islamistischen Radikalisierung zu erklären und er zeigt Wege der »Überwindung des Übermuslims« auf. Der Psychoanalytiker Fethi Benslama, anerkannter Islamismusexperte in Frankreich, verfügt über jahrelange Arbeitserfahrung mit Heranwachsenden in der Pariser Vorstadt. Im Zentrum seines Essays steht eine Figur, die er Übermuslim nennt. Das quälende Gefühl muslimischer Adoleszenten, »nicht muslimisch genug zu sein«, mache diese empfänglich für die Ideologie des Islamismus.
Der fiktive Dialog zu Beginn des Artikels und der anschließende Monolog sollen das Wahnsystem verdeutlichen, in dem sich solcherart Radikalisierte befinden. Die daraus resultierende lebensgefährliche Einstellung ist aus psychoanalytischer Sicht Ausdruck einer Psychopathologie.
»Im Zentrum stehen die wahnhaften Verkennungen sich verändernder Lebensrealitäten und die damit verbundene Unfähigkeit zur psychischen Integration von Erfahrung und Erkenntnis. In diesen Kontext gehören nicht nur blinder missionarischer Eifer, sondern auch Unterdrückung von Toleranz und Freiheit in den eigenen Reihen und gegenüber Andersgläubigen bzw. anders Lebenden.« (Adrian Gaertner, Traum und Traumdeutung in der Bibel; IMAGO; Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Bd. 4, Psychosozial-Verlag 2017).
Der 1951 in Tunis geborene Autor Benslama äußert in seinem Essay die Hoffnung, dass die im Arabischen Frühling sichtbar gewordenen Kräfte, die eine Unterwerfung des Politischen unter die Religion ablehnen, sich letztlich durchsetzen werden können. Er lässt zu Beginn seines Essays und als Schlusswort Tahar Haddad (1899-1935) zu Wort kommen:
»Freiheit bedeutet nicht, die Fesseln des Lebens abzulegen, sondern sie ist der Wunsch, es von den versteinerten Phantasmen zu befreien, die es umgeben.«
Info: Fethi Benslama; Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt; Matthes & Seitz Berlin 2017
Fethi Benslama; Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt; Matthes & Seitz Berlin 2017