Psychische Strukturbildung als pädagogische Aufgabe; Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 24; Psychosozial-Verlag, Teil 1/2
Thomas Adamczak
Wiesbaden (Weltexpresso) - Ein Schüler holt mit seinem rechten Fuß aus und tritt einer vor ihm laufenden Schülerin mit voller Wucht von hinten gegen den Knöchel. Das Mädchen fällt, schreit auf. Ein Lehrer sieht den Tritt, das erschrockene Gesicht des Mädchens, zweifelte keinen Augenblick an der Absicht des Jungen. Der Lehrer holt aus, schlägt zu. Auf der Wange des Jungen ist der Abdruck von fünf Fingern zu sehen.
Eine schulische Szene mit zwei inakzeptablen Grenzüberschreitungen. Das „Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik“ setzt sich in mehreren Beiträgen mit der Problematik innerer und äußerer Grenzen auseinander. Der Begriff »Grenze« ist gegenwärtig ein Hochwertwort, wobei sich die öffentlichen Debatte um territoriale Grenzen als Trennungslinie zwischen Räumen (z.B. EU-Außengrenze, Ländergrenzen) dreht. In dem Jahrbuch geht es um normative und symbolische Grenzen, die schwierig zu fassen, aber »ebenso wirkmächtig (sind) - sowohl für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie für die Lebensgestaltung des Einzelnen«. Zwischen diesen unterschiedlichen Typen von Grenzen bestehen verblüffende Analogien.
Die Autorinnen und Autoren der Beiträge des Jahrbuchs befassen sich interdisziplinär mit dem spannungsvollen »Wechselverhältnis von Grenzsetzung und -Überschreitung, mit ihrer Begründung, Verhandlung und Durchsetzung« im pädagogischen Feld.
Es geht um die Frage, wie Jugendliche bei der Herausbildung „innerer Grenzen“ geholfen werden kann, die so verlässlich sind, dass die Betroffenen sich und andere durch die Überschreitung sinnvoller äußerer Grenzen möglichst wenig in Gefahr bringen.
In dem eingangs gewählten Beispiel überschreiten sowohl die Lehrkraft wie auch der Schüler eine normative Grenze. In der Schule wie überhaupt kann man sich nicht darauf verlassen, dass innere Grenzen stets verfügbar sind und wirken, wobei bei der obigen Szene unklar ist, ob die Beteiligten situationsbedingt eine ansonsten funktionierende innere Grenze überschritten haben. Dazu müsste man wissen, wie sie sich innerlich unmittelbar nach dem Geschehen mit diesem befassten.
Die Autoren G. Bittner und M. Schwabe verdeutlichen in ihren Beiträgen, dass eine Verbots-und Schuldmoral nicht ausreicht, um die Einhaltung von Regeln und Normen zu begründen und zu gewährleisten.
An seiner eigenen Biografie erläutert G. Bittner, dass wir seit »früher Kindheit und das ganze Leben hindurch damit beschäftigt (sind), Grenzen auszutesten und herauszufinden, welche dieser Grenzen bloß »internalisiert«, d.h. nur dadurch legitimiert sind, dass alle, von den Eltern angefangen, uns einschärfen, dass man sie einhalten muss«.
Diesen internalisierten Grenzen stellt er »innere Grenzen« gegenüber, die um ihrer selbst willen eingehalten werden.
Das Vorhandensein einer inneren Grenze bedeutete beim ohrfeigenden Lehrers, dass er seine Affekthandlung nicht nur deshalb bedauert, weil er Angst vor dienstrechtlichen Konsequenzen hat oder wegen des internalisierten Verbots, jemanden und schon gar keinen Abhängigen zu schlagen. Diese innere Grenze erforderte »die Identifikation mit einer Solidargemeinschaft alles Lebendigen«. Die Verletzung der inneren Grenze ginge mit anschließenden quälenden Gewissensbissen einher. Die Ohrfeige führte dazu, dass dem Lehrer Schuldgefühle so zusetzen, dass er gewappnet wäre, eine solche Affekthandlung wie die Ohrfeige künftig unbedingt vermeiden zu wollen. Diese Grenzüberschreitung des Lehrers ist heutzutage einigermaßen außergewöhnlich, die des Jugendlichen für heutige Verhältnisse weniger.
Zwar ist die Zahl jugendspezifischer Gewaltdelikte zurückgegangen, »aber die Schwere einzelner Taten hat zugenommen und auch die Hemmungslosigkeit, mit der sie ausgeführt werden«. Beispiele für die Abwesenheit innerer Grenzen liefern terroristische Gewalttaten, und als Indikator kann auch das sogenannte »School Shooting« dienen.
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Info: Psychische Strukturbildung als pädagogische Aufgabe; Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 24; Psychosozial-Verlag; Bernd Ahrbeck, Margaret Dörr u.a. (Hrsg.)