Psychische Strukturbildung als pädagogische Aufgabe; Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 24; Psychosozial-Verlag, Teil 2/2


Thomas Adamczak

Wiesbaden (Weltexpresso) - Im Jahrbuch wird verdeutlichen, dass das »Trocken-Brot« von Pädagoginnen und Pädagogen die permanente Konfrontation mit Regelbrüchen und Grenzverletzungen ist. Jugendliche sind nach Bittner wie wir alle auf einer Lebensreise, in der es darum gehe, eine innere Landkarte mit Orientierungspunkten zu konstruieren, die die eigene Welt zutreffend abbildet.

Es gehe um die Frage: » Wie kann ich am besten leben?« Die Beantwortung der Frage erfordere eine »unabschließbare Bewegung, die unter Umständen Verletzung bzw. das Überschreiten von konventionellen Grenzen erforderlich macht. Wie soll ich wissen, wie ich leben will, wenn ich nicht die Gelegenheit hatte, es auszuprobieren?« (In dem Aufsatz „We Refugees“ aus dem Jahr 1943 von Hannah Arendt sieht sie sich als „Neuankömmling“, der sich in Erwartung eines besseren Lebens in ein neues Land begibt.) Pädagogen müssten akzeptieren, dass bei diesem lebenslangen Prozess »jedes Recht auf Irrtum« bestehe, »auch wenn solche Irrtümer manchmal teuer bezahlt werden. Aber daran, die Regeln (und Grenzen, T. A.) auf den Prüfstand zu stellen und seine eigenen Erfahrungen zu machen, führt kein Weg vorbei «. Schwabe und Bittner fordern, dass Pädagoginnen und Pädagogen sich mit »Regelbrechern« und »Grenzverletzern« identifizieren können sollten. Dazu wäre es hilfreich, sich an die eigenen, oft lustvoll erlebten Grenzverletzungen zu erinnern. Hinzu müsse allerdings unbedingt die Identifikation mit den Normen der Gesellschaft kommen, die der Pädagoge vertreten und so weit wie möglich durchsetzen soll. »Dazu muss man hundertprozentig hinter ihnen stehen, zumindest auf der Bühne, auf der ich jungen Menschen als Pädagoge begegne.«

Die entscheidende Frage für Pädagoginnen und Pädagogen ist, wie sich diese wirklichen inneren Grenzen entwickeln. Wie können Orientierung am eigenen Wohlergehen und die Akzeptanz von Begrenzungen miteinander vereinbart und in eine gewisse Balance gebracht werden?

M. Schwabe unterscheidet hinsichtlich der Motive, aus denen junge Menschen Grenzen beachten und sich an Regeln halten, vier Stufen. Auf Stufe eins wird eine Grenze aus Angst vor einer Autorität eingehalten. Stufe zwei erfordert für den Autor erreicht die Internalisierung des Verbots. Stufe drei ist erreicht, wenn die Regel deswegen gebieterisch wirkt, weil die eigene Zufriedenheit auf dem Spiel steht. Die Maxime lautet dann: »Das kannst du für dich selbst nicht wollen!« Auf Stufe vier wirken die eigenen Gewissensbisse so nachhaltig, dass eine bestimmte Grenzverletzungen »einfach nicht geht«. Über diese Stufe vier hätte man gern mehr erfahren. Das Beispiel des Autors mit dem Frosch, den man nicht quält, oder das Beispiel vom Menschen, den zu foltern sich verbietet, hätte um realitätsbezogene Beispiele für das Funktionieren bzw. Versagen innerer Grenze ergänzt werden können.

Wenn die in der Schule und im gesamten pädagogischen Bereich Tätigen der Prämisse zustimmten, dass Schuld- und Verbotsmoral nicht geeignet sind als Regulatoren des Verhaltens Heranwachsender, könnten sie wie die Vertreter der psychoanalytischen Pädagogik die Frage stellen, ob und wie Jugendliche bei der Herausbildung innerer Grenzen unterstützt werden können.

Schwabe empfiehlt PädagogInnen hinsichtlich des Umgangs mit Grenzverletzungen Gelassenheit und einen Schuss Humor bei »gleichzeitiger Duldung von Wut-und Hassgefühlen oder einem Sturzbach von Tränen bei sich und den jungen Menschen« sowie ausgesprochene oder stillschweigend vereinbarte Verträge, in denen wechselseitig kalkuliert wird, was die Beteiligten »geben können, wollen und müssen, um ein Miteinander-Leben zu ermöglichen«.

In dem Beitrag von E. Heinemann werden Heranwachsende mit Migrationshintergrund thematisiert, deren Gewaltbereitschaft vor dem Hintergrund kulturell geprägter Vorstellungen über Ehre, Familie, Geschlechterbeziehungen und von der Suche nach Anerkennung innerhalb der Männerwelt und der Stabilisierung männlicher Identität gesehen werden muss. Wie kann sich bei dieser Gruppe oder generell bei dissozialen Jugendlichen eine innere Grenzen herausbilden? Schwabe vermutet, dass 50 % der dissozialen Jugendlichen noch nicht einmal aus Angst vor Autoritäten oder Sanktionen normative Grenzen akzeptieren.

Erinnert sei an dieser Stelle an das berühmte Milgram-Experiment. Ein Drittel der Versuchspersonen weigerte sich, die Aufforderung, angeblich gemachte Fehler mit Stromstößen zu bestrafen, zu befolgen. Ein Drittel! Ein weiteres Drittel bestrafte mit Stromstößen, zeigte immerhin körperliche Reaktionen wie erhöhten Blutdruck und Schweißabsonderung. Ein Drittel gab die höchstmöglichen Stromstöße, hörte dabei die fingierten Schreie der Opfer, ohne mit der Wimper zu zucken. Das sind die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Experiments, in dem Autorität simuliert wurde. (Umstritten ist, inwiefern das Experiment ethisch zu rechtfertigen ist.)

Alle drei Gruppen finden sich unter Schülerinnen und Schülern. Wie kann Schule die dritte Gruppe von Schülerinnen und Schülern, denen es an basalen Wahrnehmung-und Verarbeitungsfähigkeiten fehlt und die unter starken inneren Zwängen stehen, erreichen? Solche Jugendliche realisieren oft gar nicht, dass sie mit ihren Grenzüberschreitungen (Diebstahl, Wutanfälle, Verächtlichmachung anderer) zwischenmenschliche Grundlagen zu stören. Zu diesem Drittel zählen Jugendliche, die überhaupt keine Grenze akzeptieren, weil deren Beachtung ihre Allmachtsvorstellungen infrage stellen würde. Sie halten sich für die Größten und damit grenzenlos berechtigt, sich all das zu nehmen, was ihnen gefällt. Sexistische Äußerungen oder Verächtlichmachung anderer durch Personen der Öffentlichkeit, die sich um höchste politische Ämter bewerben und trotz oder sogar wegen solcher Äußerungen verblüffende Erfolge erzielen, erleichtern die Arbeit von Pädagoginnen und Pädagogen, das sei abschließend angemerkt, nicht gerade. Der gewählte amerikanischen Präsident sollte in einem der nächsten Interviews, die mit ihm geführt werden, nach seinen handlungsleitenden inneren Grenzen befragt werden, inneren Grenzen für Lüge, Frauen- und Ausländerfeindlichkeit.

 

Foto: (c) ganzheitliche-psychische-strukturen.de/psychotherapie

Info: Psychische Strukturbildung als pädagogische Aufgabe; Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 24; Psychosozial-Verlag; Bernd Ahrbeck, Margaret Dörr u.a. (Hrsg.)