Ulrike Edschmid liest aus ihrem neuen Buch in Berlin
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Die in Ost-Hessen aufgewachsene, seit vielen Jahren in Berlin lebende Schriftstellerin Ulrike Edschmid, stellte mit einer Lesung ihren neuen Roman „Ein Mann der fällt“ vor.
Über die Berliner Autorenbuchhandlung im S-Bahn-Bogen rattern während der Präsentation laut die Züge, einige Blocks weiter steht das Wohnhaus, von dem im Folgenden die Rede sein wird. Ich-Erzählerin Edschmid beschreibt, wie sie und ihr neuer Partner dort vor vielen Jahren eine Wohnung renovierten und zusammenleben wollten. Doch „der Beginn unseres neuen Lebens liegt unter Schutt, Dreck und abgerissenen Tapeten.“ Irgendwann ist es geschehen, der Mann, wie sie ihn bloß nennt, stürzt von einer Leiter und ist fortan unfähig zu gehen. „Sein Körper weiß nicht mehr, wie man das macht. Er hat es vergessen. Er werde nie mehr laufen können, sagt der Arzt. Vielleicht ein paar Schritte an Krücken. Er brauche einen Rollstuhl. Für immer.“ Aber der Mann bäumt sich auf gegen die ihm vorhergesagte „Rollstuhlwelt.“ „Mit der unvorstellbaren Kraft, die er täglich aufbringen muss, um die ersten Schritte zu tun“, lernt er sich mit Stöcken zu bewegen.
Ständig fällt er und richtet sich erneut auf. „Aber er wird wieder fallen. Und er wird wieder aufstehen (...) Er lernt zu fallen. Ein Mann der fällt.“ In diesem Buch geht es nicht um die Bewältigung eines furchtbaren Schicksals, der Mann erlebt sich nicht als Behinderter, obwohl nichts mehr so wie früher ist. Er entdeckt die Langsamkeit, muss sie ja entdecken, und erlebt das als Abenteuer. Einmal habe sich der Mann vorgestellt, unbeschwert zu gehen und die Erzählerin in die Arme zu nehmen: „Unser zurückliegendes Leben, dessen war er sich in diesem Augenblick sicher gewesen, werde unsere Zukunft nähren, denn was er sich wünschte, das hatte er erlebt. Bei diesem Gedanken seien Gewichte von ihm abgefallen, und er habe sich als glücklichen Menschen erlebt.“
Edschmids Roman ist keine Schmonzette über den Leidensweg ihres gefallenen Gefährten. Sie habe auch nicht ihre Gefühle darstellen wollen, erklärte die Autorin nach der Lesung. So schreibt sie einmal ganz schlicht: „Mein liebstes Bild ist, wenn er mir entgegenkommt. Aber ich kann nicht in seine Arme laufen. Er würde mich nicht auffangen können.“
Ursprünglich habe sie Geschichten des Wohnhauses schreiben wollen, doch das wäre ihr zu anekdotisch gewesen. Nun erzählt sie eher nebenbei von der Russenmafia und politischen Flüchtlingen in ihrer Wohngegend, Suiziden und Morden, die um das Haus herum geschehen. Die dramatische, mitunter auch humorvolle Berliner Realität, streift das veränderte Leben der beiden Menschen.
Ebenso wie Edschmids Romane über ihre Kindheit und Jugend im Sinntal („Die Liebhaber meiner Mutter“) oder den erschossenen Geliebten („Das Verschwinden des Philip S.“) hat das Buch autobiografische Züge. Dennoch notiert sie am Ende des Romans: „Alles was auf diesen Seiten zur Sprache kommt, hat sich auf diese oder jene Weise ereignet. Dennoch ist keine Person, kein Ort und kein Geschehnis mit der Wirklichkeit gleichzusetzen.“ „Sie hat sich nicht ins Dickicht des Imaginären locken lassen“, meinte die Lektorin des Suhrkamp-Verlags (Katharina Raabe) bei der Buchvorstellung.
Mit ihrer verdichteten Sprache nimmt die Autorin Distanz, vermeidet eigene Gefühle - beschreibt jedoch präzise und bildhaft ihre oft spannenden Beobachtungen. Edschmid überwältigt die Leser nicht mit dramatischen Worten und weckt - gerade deshalb - große Empathie mit ihren Figuren, in die sie sich hineinschreibt. Gerne nutzt sie dennoch wunderbare poetische Metaphern: „Er bewegt sich mit den Augen. Sie sind ihm voraus. Seine Beine können sie nicht einholen. Die Augen sind schon da, wo er noch lange nicht sein wird.“
„Der Mann“ bleibt in diesem großartigen Buch ohne Namen und wird zum ermutigenden Beispiel für einen kraftvollen Kämpfer, der, wie eine der geschundenen Figuren des Malers Francis Bacon, niemals aufgeben wird.
Über die Autorin
Ulrike Edschmid wurde 1940 in Berlin geboren, verlebte aber ihre Kindheit auf der Burg Schwarzenfels im Sinntal. Zum Studium ging sie zunächst nach Berlin, studierte später in Frankfurt Pädagogik und arbeitete dort als Lehrerin. Im Alter von 40 Jahren beschloss Edschmid, nur noch zu schreiben und lebt seitdem wieder in Berlin. 2013 erhielt sie den Grimmelshausen-Preis und den Preis der SWR-Bestenliste für ihr Lebenswerk, 2014 den Cotta Literaturpreis.
Foto: Cover
Info:
Ulrike Edschmid: Ein Mann der fällt, gebunden, 187 Seiten, Suhrkamp-Verlag, 20 Euro