Trauerfeier für Marcel Reich-Ranicki auf dem Frankfurter Hauptfriedhof
Felicitas Schubert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sie hätte ihm gefallen, seine eigene Beerdigung, da waren sich die Freunde und Verehrer des mit 93 Jahren am 18. September verstorbenen in Deutschland einflußreichsten Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki einig, dem nichts so verhaßt war, wie wenn man ihn langweilte. Und daß eine richtige Schau ablief, in der die Polizeiabsperrungen an Großdemonstrationen erinnerten, das hätte ihn auch amüsiert.
Das nächste Mal, dachte man bei sich, muß man ihm doch sagen, daß er mit einer eigenen Rede die Trauergäste hätte erfreuen könnte, posthum sozusagen. Aber solche Assoziationen, die sind, wie so vieles andere, nun Schnee von gestern. Was bleibt, ist die starke Erinnerung an ein unglaubliches Leben und Schaffen und die durchaus diffusen Gefühle, die mit dieser zum Titan gemachten Gestalt verbunden sind. Daß gerade Trauerfeiern eine solche weiter aufbauen und das Aufgebaute zelebrieren, kann man an einem solchen Nachmittag mit viel Volk sehr gut ertragen. Wie überhaupt Beerdigungen leichter zu ertragen sind, wenn es um jemanden geht, der ein eindrucksvoll schwieriges und gleichermaßen erfülltes Leben hatte.
Die Polizei war übrigens vor allem da, weil Bundespräsident Joachim Gauck mit Frau Daniela Schadt gekommen war und für ganz Deutschland dem einzigen Sohn Andrew Ranicki, dessen Frau und Tochter Carla kondolierte. Andrew Ranicki lebt in England, wohin ihn die Mutter als Jungen brachte und wo er blieb. Heute ist er dort Professor für Mathematik. Er war sichtlich bewegt von der großen Anteilnahme, den Reden von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der Literaturkritikerin Rachel Salamander und des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, Salomon Korn.
Auch Petra Roth, ehemalige Oberbürgermeisterin Frankfurts berichtete von den unverblümten Worten, mit denen Reich-Ranicki sie bedacht habe, wenn er denn in Frankfurt dann doch mal etwas zu loben hatte: „Das hat mit Ihnen gar nichts zu tun!“ Auch der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier kam zu Wort und lobte des Verstorbenen „Einsatz gegen Vergessen und Gleichgültigkeit“ und befand: „Unser Land verdankt ihm unendlich viel!“ und Peter Feldmann, der jetzige Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt, die für die Reich-Ranickis über so viele Jahre ihr Zuhause geworden war, hielt eine Trauerrede, die wir abdrucken können, weil sie der Pressedienst der Stadt verschickt hatte.
Aber auch Musik erklang, so etwa Puccinis La Bohéme, und dann kam Thomas Gottschalk, der die Fotografen zum Großeinsatz brachte. Dieser Fernsehunterhalter hatte den so ehrlichen wie eindrucksvollen Fernsehauftritt Reich-Ranickis 2008, als dieser den Fernsehpreis Deutschlands erhalten sollte, im Nachhinein 'abgefedert', als der Preisträger die Entgegennahme verweigerte mit dem Hinweis auf die, die Dummheit fördernden Sendungen und die widerwärtigen Peinlichkeiten dieser Preisveranstaltung. Einmal ehrliche Worte im Fernsehen. Er sprach von der Furcht, eine Trauerrede auf Reich-Ranicki halten zu müssen: „Unüberbrückbar schien mir die Distanz zwischen seiner Gedankentiefe und der Oberflächlichkeit meines Gewerbes.“ Gottschalk machte sich sodann zum „Vertreter der geistigen Mittelklasse“, was bedeuten sollte, daß er die Mehrheit in diesem Lande vertritt, „Als Sprecher dieser Masse und nicht als Vertreter einer Elite“. Ob das auch auf seine Aussage über die Autobiographie „Mein Leben“ zutrifft? „Mit der Lektüre seines Buches hat mich diese Vergangenheit noch einmal eingeholt, und erst zu diesem späten Zeitpunkt, ich muß es zu meiner Schande gestehen, habe ich mich ihr wirklich gestellt.“
Salomon Korn, der auch als Vizepräsident des Zentralrats der Juden sprach, hatte auf die Grundkonstellation des Lebens von Reich-Ranicki hingewiesen, heute in dem Land derer zu leben, die ihn damals dem Tod geweiht hatten, weshalb er auch Volker Bouffier widersprach, der behauptet hatte: „Hier bei uns war er daheim“ und sagte: „Marcel Reich-Ranicki hat sich nirgendwo beheimatet gefühlt.“ Seine schroffe, unbedingte und unerbittliche Art habe mit den Verfolgungen und seiner Flucht vor den Nazis zu tun, wo man sich Gefühle, noch dazu positive, nicht habe leisten können: „Um zu überleben, hatte er eine Palisade um sein Innerstes errichtet.“
Rede von Oberbürgermeister Peter Feldmann zur Trauerfeier für Marcel Reich-Ranicki
Wir tragen heute Marcel Reich-Ranicki zu Grabe. Dies ist eine Stunde der tiefen Trauer um einen großen Menschen. Einen Menschen, der die Abgründe wie die Höhen des 20. Jahrhunderts durchmessen hatte wie wenige sonst.
Als Überlebender der Judenverfolgung und des Warschauer Ghettos hat er sein Leben der deutschen Literatur und Sprache gewidmet. Die Sprache war seine Heimat, so wie Frankfurt ihm und seiner so wunderbaren Ehefrau, Toisa, zu einem Zuhause geworden sind. Hier war er selbst noch in den letzten Jahren präsent, pflegte seine Freundschaften, überwachte die Frankfurter Anthologie und nahm weiterhin an einer Welt teil, die der seiner Kindheit und Jugend so fern schien.
Nie werde ich seine Rede vor dem Deutschen Bundestag im vergangenen Jahr vergessen, in der er mit leiser, fast schon tonloser Stimme von dem Tag berichtete, an dem die Räumung des Warschauer Ghettos und damit die Deportation seiner Einwohner besiegelt wurde. Der Befehl der Deutschen, den er im Ghetto zu verbreiten hatte, diente, so er selbst, „nur einem Ziel, nur einem Zweck: dem Tod“.
Ihm und seiner jungen Frau gelang – anders als so vielen anderen – die rettende Flucht. Wie er und Tosia überlebten, beschreibt Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiographie „Mein Leben“. Sie zählt zu den eindrücklichsten Zeugnissen der Shoah. Das Buch erreichte ein breites Publikum, das mit ihm erstmals von der Leidensgeschichte „seines“ so telegenen und leidenschaftlichen Literaturpapstes erfuhr. Der Beifall für den furiosen Kritiker verwandelte sich in Hochachtung und Respekt vor dem, was er und seine Frau durchlitten hatten. Aus dem Literaturkritiker der FAZ wurde der Zeitzeuge Marcel Reich-Ranicki, der bei allem Ruhm nie die Niedertracht und Schuld des 20. Jahrhunderts vergessen konnte. Er gehört zu denjenigen, die den schmalen Grat zwischen Büchern und Barbarei aus eigenem Erleben kannten.
Frankfurt verdankt ihm unendlich viel. Mit seinem Charisma, seinem Witz und seiner schnellen Intelligenz stand er immer, wo er öffentlich auftrat, im Zentrum. In seinem Engagement für die deutsch-israelische Versöhnung war die Universität Tel Aviv eine tragende Säule. An dem dort gegründeten Marcel Reich-Ranicki Lehrstuhl für Deutsche Literatur forschen junge Israelis in seinem Namen über die Literatur, der er sein Leben gewidmet hat.
Die Stadt Frankfurt verlieh ihm 2002 in der Paulskirche den Goethe-Preis, ihren wichtigsten Kultur- und Literaturpreis. Sie tat dies aus tiefer Dankbarkeit und im Bewusstsein, dass diese Auszeichnung einem Menschen galt, dem die Arbeit am Leben der Bücher auch eine Arbeit an der Freiheit und Gerechtigkeit der Republik war, wie es sein damaliger Laudator, Peter von Matt, formulierte.
Das Zentrum des Lebens von Marcel Reich-Ranicki war die Literatur, sein Fundament ein demokratisches Deutschland und seine nie verheilende Wunde die Judenvernichtung. Einen wie ihn wird es nicht mehr geben.