Redaktion
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Together we still have much work to do!“, mit diesem in die Zukunft gerichteten Appell fasste Weny Schmelzer das Fazit ihres Besuches bei ihrer Rede beim Abschlussempfang im Frankfurter Römer zusammen. Sie gehörte zu einer Gruppe von Kindern und Enkeln ehemaliger Frankfurterinnen und Frankfurtern, die vom 8.-15. Juni auf Einladung der Stadt Frankfurt in der früheren Heimat der Eltern und Großeltern zu Gast waren.
Was hat die Kinder und Enkel ehemaliger Frankfurterinnen und Frankfurter, die während des Nazi-Regimes fliehen mussten, motiviert, an dem Besuchprogramm der Stadt teilzunehmen?
Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren mit Schweigen über die Vergangenheit aufgewachsen und hatten nur wenig von den Eltern oder Großeltern erfahren. Andere sind mit Geschichten aus Frankfurt groß geworden. Allen jedoch war es wichtig, die Orte des Lebens ihrer Vorfahren in Frankfurt und außerhalb kennenzulernen, die Wohnadressen, die früheren Schulen, die Arbeitsstätten und die Geschäfte, die die Eltern und Großeltern einst besaßen, die Gräber der Großeltern und Urgroßeltern, die Herkunftsorte der Vorfahren und Vieles mehr. Diese Orte weckten entweder Erinnerungen an das, was ihnen die Eltern und Großeltern erzählt hatten und ermöglichten Begegnungen mit dem, was ihre Eltern beschwiegen hatten.
Das Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt unterstützt diese Spurensuche, recherchiert für die Besucher und Besucherinnen in Archiven und begleitete sie während ihres Aufenthaltes.
Angelika Rieber, Vorsitzende des Projektes Jüdisches Leben in Frankfurt, hatte die Gäste begrüßt. Auf die Gäste wartete ein volles Programm. Von großer Bedeutung waren die beiden Get-togethers zu Beginn und am Ende des Besuchprogramms, die ihnen Gelegenheit gaben, sich gegenseitig vorzustellen und ihre Erfahren während ihres Aufenthalts in Deutschland auszutauschen. So konnten sie Gemeinsamkeiten mit den anderen Teilnehmenden feststellen, aber auch Unterschiede sehen, die sowohl die Fluchtgeschichten betrafen als auch den Umgang mit den Verfolgungserfahrungen in den einzelnen Familien.
Bei der Stadtrundfahrt erhielten die Gäste eine Überblick über die Stadt heute. Der Begegnungsnachmittag, zu dem das Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt eingeladen hatte, ermöglichte ihnen, Vertreterinnen und Vertreter der Schulen kennenzulernen, mit denen sie die Gespräche in den Schulen vorbereiteteten. Ebenso trafen sie die Ehrenamtlichen, die sie während der Woche bei der Spurensuche begleiteten und Kontakte vermittelten.
Der Besuch des Bunkers am folgenden Tag war vor allem für diejenigen interessant, deren Vorfahren im Frankfurter Ostend gelebt und der Hirsch-Gemeinde angehört hatten. Ein Abstecher zum Kindertransportdenkmal, das von Renata Harris angeregt und vom Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt initiiert wurde, war vor allem für die Brüder Melwyn und Danny Kalman bewegend, denn ihr Vater Hans konnte mit seinem Bruder Erich mit einem Kindertransport fliehen, wie auch Renate Adler.
Am Abend besuchten die Gäste den Shabbat-Gottesdienst in der Westendsynagoge, dort, wo viele der Vorfahren ihre Bar-Mizwa erhalten hatten. Am Wochenende und darüber hinaus stand die persönliche Spurensuche im Mittelpunkt, nicht nur in Frankfurt, sondern auch in den Herkunftsorten der Vorfahren, die es überwiegend um die Jahrhundertwende in die Mainmetropole gezogen hatte.
Susan Merzbach hatte sich entschlossen nach Wickrath zu fahren, wo ihr Urgroßvater einst eine Lederfabrik besaß. Auch der Besuch auf dem jüdischen Friedhof in Offenbach war ihr ein dringendes Anliegen, denn dort konnte sie zahlreiche Gräber ihrer Merzbach-Vorfahren finden.
Susan und Carrie Berman reisten nach Mannheim, wo die Familie der Großmutter herstammte. Frederico Lubelski, als einziger Teilnehmer der Besuchergruppe noch in Frankfurt geboren, wurde von seinen beiden Söhnen und der Tochter nach Langsdorf begleitet, wo er bei seinem Großvater aufwuchs. Mit ihm konnte er 1939 den Eltern nach Argentinien folgen.
Hedy Ciocci nutzte den Besuch in Frankfurt, um nach Hemsbach an der Bergstraße zu fahren, wo ihre Mutter aufgewachsen war. Und Vivian Simon erlebte im eher dörflichen Schwanheim den Kontrast zur pulsierenden Großstadt. Dort erlebte ihr Vater die ersten
Jahre seiner Kindheit. Die Großmutter war in Schwanheim als Zahnärztin tätig, eine der ersten Frauen in diesem Beruf, bis ihr 1933 die Krankenkassenzulassung entzogen wurde.
Rick Eis zog es nach Bingen, wo die Familie des Vaters herkam (http://www.juedisches-leben-frankfurt.de/de/home/biographien-und-begegnungen/biographien-a-f/maurice-eis.html), und Carol Windecken besuchte Windecken, den Herkunftsort der Großmutter (http://www.juedisches-leben-frankfurt.de/de/home/biographien-und-begegnungen/biographien-t-z/herta-und-karl-wolf.html).
Auf die Geschwister Wendy und John Schmelzer wartete während ihres Besuches in Frankfurt ein volles Programm. Ihr Weg führte sie unter anderem nach Offenbach, wo ihr Vater aufwuchs und die Großeltern ein großes Bekleidungsgeschäft besaßen. Die frühere Synagoge zu besuchen, wo der Vater seine Bar Mizwa erhalten hatte, war für sie ein besonders bewegender Moment. In Hanau wandelten sie wenige Tage später auf den Spuren des Großonkels Fritz und der Urgroßmutter Jeanette, die später nach Theresienstadt deportiert wurde. Der Besuch in Wehrheim hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. Dort wurden die fünf Kinder von Jeannette Hirsch geboren. Zu sehen, dass die Familie Hirsch in Wehrheim über Generationen verwurzelt war, weitete den Blick auf einen Teil der deutsch-jüdischen Geschichte, der ihnen bislang nicht bekannt war. Ihr Bild von Deutschland sei zuvor allein auf die Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus fokussiert gewesen.
Ebenfalls war es Wendy und John Schmelzer ein großes Anliegen, zu sehen, wo ihre Mutter Marianne Ehrenfeld in Frankfurt aufgewachsen war und zur Schule ging. http://www.juedisches-leben-frankfurt.de/media/familie_ehrenfeld-enfield.pdf
Die Orte der Kindheit und Jugend der Eltern, die Wohn- und Arbeitsstätten der Großeltern und Urgroßeltern zu sehen, hat die Teilnehmenden des Besuchsprogramms mit der Geschichte ihrer Vorfahren in Deutschland verbunden und tief bewegt. “Many of us - including my brother and myself - had arrived having only vague information about these deep connections and roots. The daytrips of discovery have been profound. Perhaps, in my
case - like so many of yours - even life altering”, so Wendy Schmelzer in ihrer Abschlussrede.
Für die Mitglieder der Familie Oppenheimer, Ballestero und Lichtenberg war die Teilnahme an der innerhalb der Besuchswoche geplanten Verlegung von Stolpersteinen für ihre Angehörigen besonders berührend. Viele Mitglieder der Besuchergruppe nahmen ebenfalls daran teil und wurden angeregt, Stolpersteine zur Erinnerung an ihre einst in Frankfurt ansässigen Familien zu beantragen.
Das Highlight der Woche war für viele der Gäste das Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern. Nahezu alle Besucher*innen nutzen die Gelegenheit, über die Lebens- und Fluchtgeschichten und die Schicksale ihrer Familienmitglieder zu berichten, Gespräche, die ihnen das Gefühl von Hoffnung für die Zukunft gaben. „We also met with Frankfurt’s wonderful high school students and their teachers who have added such an important dimension in letting us share with them this essential element of their country’s history - and of our family history; so that they - the students - can begin to consider the personal and political choices they will make. They are the future.”
Und dennoch bleiben große Sorgen über den zunehmenden Antisemitismus weltweit und die Gefährdungen der Demokratie. Sie fordern uns alle auf, wachsam zu sein und uns gemeinsam für Menschenrechte und Demokratie zu engagieren.
“Together, we still have much work to do!
Foto:
Besuchergruppe vor dem Jüdischen Museum in Frankfurt am Main
©Angelika Rieber
Info:
Quelle Projekt Jüdisches Leben
Besuchergruppe vor dem Jüdischen Museum in Frankfurt am Main
©Angelika Rieber
Info:
Quelle Projekt Jüdisches Leben