Frankfurts vergessene Forscher: Drei Wissenschaftler, drei Schicksale
Roman Herzig und pia
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Goethe-Universität wird 100 und feiert mit zahlreichen Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Unter den Wissenschaftlern sind Nobelpreisträger wie Paul Ehrlich oder Otto Hahn. Einige ihrer Kollegen sind in Vergessenheit geraten, obwohl sie zu ihrer Zeit Bahnbrechendes leisteten und ihre Arbeiten bis heute nachwirken.
Aus den Augen, aus dem Sinn – so läßt sich das Verschwinden einiger Forscher aus dem Gedächtnis beschreiben. Ihre Spuren verlieren sich meist im Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus, weshalb die Nachgeborenen das erst einmal gar nicht wissen. Die Wissenschaftler wurden diskriminiert, aus dem Amt gedrängt oder in die Emigration getrieben. Einer, den dieses Schicksal traf, war der Begründer der Neuropsychologie, Kurt Goldstein (1878-1965). Ihn faszinierte seit den Anfängen seiner medizinischen Karriere der Zusammenhang von Hirnfunktionen und psychologischen Erkrankungen. Goldstein kam erstmals 1903 nach Frankfurt, elf Jahre später begann er im Dezember 1914 mit seiner Arbeit am Neurologischen Institut der gerade neu gegründeten Universität.
Goldsteins Methoden sind heute selbstverständlich
Der Erste Weltkrieg eröffnete Goldstein die Chance, seine innovativen Methoden zur Rehabilitation hirnverletzter Soldaten zu entwickeln und einzusetzen: Im Reservelazarett Haus Sommerhoff in der Gutleutstraße arbeiteten Psychologen, Heilpädagogen, Berufsberater, Handwerker, Sozialarbeiter und Mediziner gemeinsam daran, den Soldaten zu helfen. Das Konzept und sein Ziel gelten heute als selbstverständlich – der Patient soll behutsam wieder in die Arbeitswelt und in die Gesellschaft integriert werden. In der zu jener Zeit üblichen Unterbringung in einer „Anstalt“ sah der Mediziner keine Alternative. Goldsteins Team entwickelte eigens auf die Hirnverletzten abgestimmte Verfahren: Unter anderem nutzten sie Sprach- und Lesetafeln, um sprachgestörte Patienten zu therapieren – Bilder von Apfel, Ast oder Arm etwa sollten das Wiedererlernen des Buchstabens A erleichtern.
In den USA erfolgreich, in Deutschland fast vergessen
Zu Goldsteins zentralen Beobachtungen gehörte, dass der Organismus hirnorganische Defekte auf Umwegen ausgleichen kann. Geht diese Fähigkeit verloren oder wird sie verhindert, gerät der kranke Mensch in Panik. Der Neurologe zog den Schluss, dass sich solche Reaktionen in einem dem Patienten angepassten Umfeld vermeiden lassen: Er braucht eine Umgebung, die ihm Sicherheit vermittelt; dann bleibt er stabil und leistungsfähig. Als das „Institut für die Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen“ 1920 geschlossen wurde, sicherten Spenden Frankfurter Bürger den Fortbestand des Lazaretts im „Verein Hirnverletzter“ und in neuem Haus. Goldstein wanderte 1930 nach Berlin ab, wo er 1933 zunächst von der SA verschleppt wurde, dann aber ausreisen konnte. In den USA lehrte er als Gastprofessor an der Columbia University in New York und in Harvard; in Deutschland gingen seine Arbeiten weitgehend unter. Auf dem Gelände des ehemaligen Lazaretts steht heute die Sommerhoff-Schule des Landeswohlfahrtverbands Hessen, in der taubstumme Kinder unterrichtet werden.
Forschungen über Krankheitserreger
Emmy Klieneberger-Nobel (1892-1985) war die erste Frau, die an der Frankfurter Universität habilitieren durfte. In ihrer Heimatstadt am Main konzentrierte sie sich auf Forschungen über Krankheitserreger und legte damit die Basis für ihren späteren Ruhm.
Die von ihr mitentdeckten Mykoplasmen gelten heute als Auslöser von Lungenentzündung, Meningitis oder Mittelohrentzündung. Moderne Forschung bringt die Bakterien außerdem mit HIV in Verbindung. Schon der Beginn ihrer Laufbahn war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich: Die Tochter jüdischer Eltern studierte mit Botanik, Zoologie, Mathematik und Physik Fächer, die als Männerdomäne galten. Nach einer Zwischenstation als Lehrerin in Dresden arbeitete sie seit 1922 am Städtischen Hygienischen Universitätsinstitut als Bakteriologin.
Die promovierte Botanikerin forschte über spezielle zellwandlose Formen einiger Bakterienarten und ihre Entstehung. Der Weg führte zu den Mykoplasmen, die Klieneberger-Nobel in den 1960er Jahren umfangreich beschrieb. Da lebte die vor den Nazis aus Frankfurt geflohene Wissenschaftlerin aber bereits viele Jahre in London. Grenzen der Liberalität hatte die Forscherin bereits 1930 in Frankfurt im Ringen um ihre Habilitation gespürt. Die Uni tat sich schwer mit dem Gedanken, einer Frau die Lehrbefähigung zuzuerkennen. Und das, obwohl unter den ersten 618 Studenten des Gründungsjahres 100 Frauen waren.
Das als verwegen geltende Projekt von Emmy Klieneberger-Nobel wäre beinahe am Fehlen eines Zweitgutachters gescheitert. Erst nach einigem Hin und Her durfte die 38-Jährige ihr Wissen an Studenten weitergeben. 1980 wurde sie für ihr Lebenswerk mit der Robert-Koch-Medaille ausgezeichnet.
Deutschlands erste Mathematik-Professorin (unser Foto)
Während Kurt Goldstein und Emmy Klieneberger-Nobel fast komplett aus dem universitären Gedächtnis verschwunden sind, erinnert zumindest eine Straße auf dem naturwissenschaftlich ausgerichteten Campus Riedberg an die Mathematikerin Ruth Moufang (1905-1977) , die erste Professorin ihres Fachs an einer deutschen Uni. Sie machte spät Karriere, weil die NS-Ideologie auch ihr den Weg nach oben verbaute. Zwar durfte sie sich habilitieren, sie erhielt aber keine Lehrbefugnis. Mit Hinweis auf die verlangten Führereigenschaften und überwiegend männlichen Studenten „fehlt dem weiblichen Dozenten künftig die Voraussetzung für eine ersprießliche Tätigkeit“, begründete das Wissenschaftsministerium 1937 die Ablehnung.
Tief enttäuscht wechselte die Mathematikerin in die Wirtschaft – sie beschäftigte sich mit technischen Anwendungen der Mathematik. 1946 kehrte sie nach Frankfurt und in die Wissenschaft zurück. Erst elf Jahre später bekam sie die ersehnte Professur; ihr Lebenstraum erfüllte sich. Diskriminiert sah Moufang sich dennoch immer wieder: Unter anderem, als sie als Direktorin des Mathematischen Instituts auf einem hochkarätigen Wissenschaftlertreffen ins Damenprogramm abgeschoben wurde.