FRANKFURTER ZUKUNFTSSYMPOSIUM Ende Mai in der Villa Metzler in Bonames

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Immer mehr Menschen fallen gegenwärtig aus den alt-erprobten Milieus noch bestehender Nahzonengesellschaften und Nahbereichsnetzwerke der Gesellschaft ganz oder teilweise heraus.

 

Sie wurden durch eine seit der Propagierung des Finanzkapitalismus umgesteuerten Politik in neuartige Kümmerzonen und auf erschreckende soziale Verelendungsstrecken geschickt. Ihr Anteil macht schon ein Viertel unserer Gesellschaft aus.

 

Gleichzeitig oder etwas zeitversetzt wird aus den Milieus der elitär angehauchten sozialen Netze im Zeichen von Zukunft ein Bedarf und Anspruch angemeldet, der offenbar verhindern will, dass soziale Milieus sich entkoppeln, dass das „untere“ Viertel dem Ganzen sowie den anderen Milieus in gleichgültiger Fremdheit gegenübersteht. Es sollen Mittel erdacht werden, die ermöglichen, dass das Auseinanderstrebende wieder mehr Bündelung und Konzentration für eine Gemeinsamkeit erfährt. Bildung und Wissen, neu entwickelt und in anderer Weise tradiert, könnten die entscheidende Bedingung sein, um dem zunehmenden Zerfall zu begegnen.

 

Der Frankfurter Zukunftsrat gehört in die Kategorie der Denkfabriken, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, an der Rekonstruktion einer Gesellschaft in der Ära nach dem Rheinischen Kapitalismus (Ludwig Erhards) aktiv zu werden.

 

Setzt der Frankfurter Zukunftsrat auf ein Modell der Begründung und Legitimation der wiederbelebten Gesellschaft durch wenige Berufene, durch Herkunft Begünstigte, oder kann er es verkraften, dass auch das breitere Sozialgefüge für voll genommen und einbezogen wird? Oder möchte er ganz und gar unter sich bleiben, die These missachtend, dass auch der Ideengeber erzogen werden muss? Wir wissen es nicht und die auf exklusiver Ebene Vernetzten werden es wohl auch nicht so genau wissen.

 

Anlässlich und zur Feier des Siebzigsten von Manfred Pohl, dem Begründer der Frankfurter Zukunftsrats, wurde über einen Dreivierteltag versucht, den Voraussetzungen der Rekonstruktion der lädierten Gattung näherzukommen. Vorgegeben waren drei Vortrags- und Diskussionsbereiche: Religion und Kultur, Wissen und Bildung, Politik und Wirtschaft.

 

 

Religion und Kultur – Wer oder was ist Gott?

 

Manfred Pohl lieferte in seinem einleitenden Vortrag eine Generalabrechnung mit den fünf Weltreligionen. Die Religionen „wurden von Männern erfunden und ausgestaltet“. Männer schufen mit ihnen „Herrschaftsstrukturen“. “Frauen spielten und spielen bis heute...keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle“. Religionen erheben ein Wahrheitsmonopol und haben „jede Form von Autoritätsgläubigkeit und Traditionsbewusstsein verfestigt“. Pohl plädiert für eine Umformung des Gottesbegriffs unter dem Vorzeichen der Neurowissenschaft und der „Akzeptanz und Toleranz aller Lebensformen“. Vorzuziehen ist unter Berufung auf Peter Sloterdijk „eine anthropologische Spitze und nicht eine religiöse“. „Es bleibt die Frage, wie...ein kulturfähiges Wesen entstehen konnte..“.

 

Mit dem naturalisierten Gottesbegriff begab sich die Versammlung notgedrungen auf heikles Terrain. Zur Frage der Begründung von Geist, Erkenntnis und Kulturentwurf durch ein Unbedingtes: Kant hatte entschieden festgestellt, dass die Vorstellung des Unbedingten auf ein Gebiet wechselt, das für die menschliche Erkenntnis die Grenzen der Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung „als solcher überhaupt“ auf alle Zeiten übersteigt.

 

Die Basis für sozio-kulturelle Kompetenz ist nur in vernunftkritischer Sprache, aber dennoch anschaulich zu fassen: „Handle so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant/Grabinschrift), Füge keinem Wesen Leid zu, denn es fühlt wie du den Schmerz. Dies genügt, ohne sich anschließend noch in die Zone einer theologisch begründeten Verankerung begeben zu müssen.

 

Der Kliniker Christian Elger wurde im einleitenden Vortrag von Manfred Pohl mit dem Konzept des Neurotheismus („Neuroleadership“) und damit gleichsam doch für eine Theisierung des Menschen („Summe aller Neuronen und Synapsen“) eingeführt. Im Unterschied hierzu bestand Peter Sloterdijk auf der „theo-poietischen Kompetenz“des Homo sapiens, also der geschichtlichen Eigenpraxis. Die Vorstellung „Gott ist die Summe aller Neuronen und Synapsen der Menschen, die waren, sind und sein werden“ (auf S.12 des in Kopie vorliegenden Vortrags von Manfred Pohl) erschien Sloterdijk als zu „hardware-orientiert“. Es war der Philosoph, der hier einwenden musste..

 

Menschliche Erkenntnis unterliegt einer Grundschwierigkeit. Im philosophischen Grundseminar lernen die Studierenden sogleich, dass die Sphären, mit denen wir im Denken relativ naiv operieren, in keinem identischen Kausalzusammenhang stehen. Vielmehr ist die Einsicht in die Sphärenunterschiedlichkeit von Denkendem und Gedachten, Gedachtem und Seienden unabweislich. Zur abschließenden Lösung bedürfte es eines quasi-göttlichen „Interfaces“. Im Akt des raumzeitlichen Erkennens ist eine abschließende Wahrheit, ein endgültiges Sein nie als gesichert abbuchbar. Es bleibt ein Graben als Ärgernis.

 

Der allzu abwehrend formulierte Diskussionsbeitrag von Bruder Paulus blieb unbefriedigend, gleichsam theo-poetisch. Er blieb jenseits der Wissenschaftlichkeit. Im abgeschieden Privaten oder in einer bekennenden Gruppe mag das anders einzuschätzen zu sein.

 

 

Wissen und Bildung

 

Welch ein Frust ist bis in unsere Tage hinein noch immer mit Schule verbunden. Es ist immer wieder ein persönliches Drama, von dem man berichtet bekommt. Unverzichtbare, echte Freiräume der Entwicklung werden nicht gewonnen, sondern gehen eher verloren.

 

Nun hat der „Faktor Markt“ (Pädagoge Bernhard Bueb) sich auch noch immer weiter nach vorne gearbeitet. Er fordert den Tribut beschleunigter Ausrichtung. Generation für Generation liegt in den Nachgeborenen und Heranwachsenden ein spezifisches Potential des Weltgestaltens, aber ihnen fehlt eine starke Lobby.

 

Bueb mahnte, dass der kindliche Erfahrungsraum immer mehr aufgehoben und durchbrochen wurde. Immer früher trat die Grunderfahrung von Gewalt, Korruption und Geld ins kindliche Leben ein, also kurz gesagt, die mittlerweile üblichen alltäglichen Katastrophenszenarien.

 

Ein zentraler Aspekt: Drittmittel laufen nicht in die Lehrerausbildung, diese verkommt zusehends (von Kristina Gräfin Pilati angesprochen).Und die allseits grassierende Bolognarisierung, sie ist gekennzeichnet von „Verspanntheit“, als „Direktmodernisierung“ 'hoppt' sie „von Text zu Text“. Mit der Globalisierung wurde auch der Verschulungseffekt verstärkt. Eine begünstigte „Orientierung an Bezugspersonen“ unterschiedlicher Art und an Gleichaltrigen wäre ein die schulischen Tage wesentlich bereicherndes Moment und Anlass für Orientierung und Selbstfindung.

 

Einen anregenden Ansatz brachte Brigitte Witzer ein („Büro für postheroisches Management“). Sie lässt es sich nicht nehmen, an einer Schule mit einer sehr kleinen Gruppe von Jugendlichen zu lernen. Jugendlicher Gestaltungs- und Lernimpuls ist gewünscht. Nur um die 5 Prozent der Lernenden aus „sozial schwachen“ Familien studieren. Dies erfordert Ungleichbehandlung, Kompensation. Überdies: die Fähigkeit zu eigenem Glück (bei Bueb auch mit „Schule und Glück“ angesprochen), die Bereitschaft zu Nachhaltigkeit und Sinn haben auch im Management ihren Platz.

 

 

Politik und Wirtschaft

 

Zweischneidig wurde es im dritten Abschnitt mit dem Vortragenden und dann Mitdiskutierenden Wolfgang Clement. Er war maßgeblicher Mitentwickler des Leiharbeit-Modells im Zuge der Entwicklung der Agenda 2010. In einer sich von der Arbeiter- und mittelständischen Angestellten-SPD wegbewegenden Politkarriere hatte sich der SPD-Apparat Mächten und Interessen, die des „kleinen Mannes“ Feind sind, angedient. Das war der Sündenfall. Die Kehrtwende unter Schröder hat die SPD langfristig ins Zwielicht gesetzt. In der Schröder-Clement-Ära wurde der Wert der soliden menschlichen Arbeit und die Ehrbarkeit des handgewerblich tätigen Menschen „in den Ofen getreten“ (so lautete es mal in einer Talkrunde von Maybrit Illner). Der Billiglohnbereich war explodiert.

 

In den Zeiten des Auseinanderbröselns des europäischen Projekts war die Diskussion um Politik und Wirtschaft das vorrangige Thema des Tages. Clement wies darauf hin, dass es noch keine einheitliche europäische Wirtschaftspolitik gibt, keine konzertierte europäische Aktion. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit bedingt eine gefährliche Vertrauenskrise. Dieser solle durch Infrastruktur-Programme begegnet werden.

 

Wohl wahr, doch ist einzuwenden: Auf welche seit etlichen Jahren krankende Nachfrage, auf welche Art des sozio-ökonomischen Aufstiegs erklecklicher Mehrheiten in Europa sollen diese Programme treffen, um die Konjunkturen zu tragen und zu verbreitern. Wenn z.B. in Deutschland zwischen 1999 und 2009 die Einkommen der ärmeren Hälfte um - bereinigt - gut 5 Prozent abnahmen, während das BIP um 9,5 Prozent wuchs - ein Trend, für den keine entscheidende Wende in Aussicht steht *. Wobei noch die Geldvolumina, die unten nicht mehr ankommen, droben in die Finanzblasen strömen, den nächsten Finanzkollaps vorbereitend, dessen Folgen dann wieder von einfachen Leuten aus Steuermitteln, mit gefallenen Einkommen und erodierten Staatshaushalten wie auch mit Arbeitslosigkeit zu begleichen sind.

 

Wenn der Bedarf abgehängter Einkommensklassen einerseits, nicht angeforderte Tätigkeit sowie Produktivitätsreserven andererseits nicht mehr zusammenfinden, kann auch das hurtigste Zentralbank-Geldsystem das Dilemma nicht mehr lösen – im Gegenteil, es schiebt die Misere nur hinaus. Es gab in der nach-erhardschen Wirtschaftszeit Einkommensverluste nach US-amerikanischem Vorbild. Fair war das nicht.

 

Aus der Clementschen Politik-Zeit rührt, dass über die Schröder-Jahre die Politik sich das Heft aus der Hand hat nehmen lassen. Sie gab global agierenden Konzernen und Multis den Zuschlag. Mit dem „Finanzstandortförderungsgesetz“ 2003 - deregulierend - öffnete sie den toxischen Papieren die Schleusen. Die Realwirtschaft kam unter den Druck entfesselter Finanzmärkte. Ressourcen, Potentiale, Qualifikationen wären da, bleiben aber chronisch ungenutzt, weil die „Finance Centers“ das Sagen haben. „Siemens-Chef Kaiser stellt 11600 Jobs zur Disposition“, FR 31.5.2014.

 

Reinhard Schmidt, Finanzprofessor im House of Finance (Frankfurt) brachte einen kritischen Ansatz ein; kritisierte den Steuersenkungs- und Steuerunterbietungswettbewerb der Jahre vor und nach dem Crash 2008, auch im Hinblick auf die dadurch mit entstehenden Finanzblasen. Das zu hören, war Clement nicht so recht, aber R. Schmidt bestand auf der Notwendigkeit und Richtigkeit eines Korridors für Steuersatzangleichung. Drastisches Beispiel für Steuerdumping: Irland erhielt Hilfen für die maroden Banken, beharrt aber weiterhin auf seinem Unternehmens-Steuersatz von 12,5 %, der auf dem europäischen Spielfeld singulär ist.

 

Clement sprach die Unsitte an, dass nicht wenige der europäischen Politiker ein Doppelspiel spielen. Sie handeln im einzelnen durchaus konstruktiv bei regelnden Gesetzen in Brüssel, setzen aber zu Hause populistisch die Antistimmung gegen Brüssel ein. Die Wähler greifen die Stimmung auf und plappern die Ressentiments nach.

 

Unruhig wurde es, als Wolfgang Clement sich rundweg für das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP aussprach. Diskussion brandete auf. So entbrannte eine gesellschaftliche Debatte erst gegen Schluss. Er habe in USA noch keine Chlor-Hähnchen bekommen oder gesehen. Vom rücksichtslosen Typ her war auch nicht anders zu erwarten, dass er die Arbeitsgesetze in Deutschland nochmals verschärfen würde.

 

Im Unterschied zu Zivilmenschen werden Politiker niemals ihre früheren Handlungen entscheidend kritisieren, nachher infrage stellen, generell überprüfen und oder gar revidieren. Dieses Moment lässt sich an Hans Eichel jedes mal in der Talkrunde am reinsten nachvollziehen. Ich, der Welten Lenker, kann nicht geirrt oder gefehlt haben. Ich, der Weltgeist im Dreireiher. Für jegliches Schlecht-Gelaufene liegt eine Rechtfertigung vor.

 

* nach Löpfe/Vontobel, Wirtschaft boomt, Gesellschaft kaputt. Eine Abrechnung, S. 64